Der nackte Berg

Die Erstbesteigung vor 70 Jahren am 3. Juni 1953

Die Erstbesteigung des Nanga Parbat vor 70 Jahren überwand das Trauma "Schicksalsberg der Deutschen" und rief ein gewaltiges Medienecho hervor.

Mit 8125 m ist der Nanga Parbat der neunthöchste Berg der Welt. Aufgrund seiner schneefreien Gipfelzone wird er von den Einheimischen als Nackter Berg – Nanga Parbat bezeichnet. Seit den dreißiger Jahren wird er in den deutschen Medien oft als „Schicksalsberg“, in der englischsprachigen Welt als „Killer Mountain“ bezeichnet. Er gilt als einer der anspruchsvollsten Achttausender und als einer der am schwierigsten zu besteigenden Berge der Erde, da selbst auf der „einfachen“ Normalroute (Kinshofer-Route) extrem lawinen- und steinschlaggefährdete Steilhänge zu durchqueren sind.

Plakat für den Film "Nanga Parbat 1953" für die Kinos der DDR. Archiv des DAV, München

Der Nanga Parbat liegt am westlichen Ende des Himalayas. Der Höhenunterschied zwischen dem Industal und dem 25 km entfernten Gipfel beträgt 7000 m. Mit 4500 Höhenmetern ist seine Rupalwand die höchste Steilwand der Erde. Der Nanga Parbat gilt zudem als die größte, freistehende und sichtbarste Massenerhebung der Erde. Diese herausragende Stellung nimmt der Nanga Parbat auch in unserem Archiv ein. Ca. 8 Prozent unserer Archivfläche befassen sich in irgendeiner Form mit dem Nanga Parbat, obwohl er ca. 7000 km vom Archiv entfernt und eigentlich kein Arbeitsgebiet des DAV ist.

Die ersten deutschen Expeditionen zu den Achttausendern in den Himalaya führten von 1929 bis 1931 zum Kangchendzönga (8586 m), dem dritthöchsten Berg der Erde. Ab 1932 wandte man sich dem Nanga Parbat zu, da man glaubte, er sei leichter zu ersteigen. 1932 fand man eine Aufstiegsroute über den Rakhiot-Gletscher zum Gipfel. Unter der Leitung von Willy Merkl wurde 1934 eine Höhe von etwa 7900 Metern erreicht. Beim Abstieg starben jedoch er und zwei weitere Bergsteiger sowie sechs Träger. 1937 begrub eine Eislawine das Lager in ca. 6200 Metern Höhe. Sieben Bergsteiger und neun Träger fanden den Tod. In Deutschland wurden die Tragödien von den Nationalsozialisten propagandistisch ausgeschlachtet und die Opfer zu Helden stilisiert. Der Nanga Parbat wandelte sich nun endgültig zum “Schicksalsberg der Deutschen“ und grub sich tief in das kollektive deutsche Gedächtnis ein.

Zu Beginn der 50er Jahren warb der Arzt Karl Herrligkoffer, der Halbbruder Willy Merkls, für eine neue Expedition zum Nanga Parbat, der sogenannten Deutsch-Österreichischen Willy-Merkl-Gedächtnis-Expedition, die eine Art Pilgerfahrt für seinen am Nanga Parbat gefallenen Halbbruder werden sollte. Dies kam im Nachkriegsdeutschland gut an, da die Trauer um geliebte Angehörige damals sehr lebendig war. Herrligkoffer erwies sich im Vorfeld der Expedition als hervorragender Organisator. Er konnte etliche Fürsprecher in Politik, Medien und Wirtschaft gewinnen. 1953 stellte er seine Mannschaft um den österreichischen Bergsteiger Hermann Buhl zusammen, der als einer der besten Bergsteiger seiner Zeit galt.

Alleingang am Nanga Parbat

Nach einem spektakulären Alleingang erreichte Hermann Buhl am 3. Juli 1953 den Gipfel des Nanga Parbats. Sein Erfolg wurde von einer Welle der nationalen Sympathie und Begeisterung begleitet, einem ersten Hochgefühl der deutschen und österreichischen Gesellschaft am Übergang von der Nachkriegszeit zum Wirtschaftswunder. Das deutsche und österreichische Bergsteigen hatte sich rehabilitiert und man war wieder im Kreis der großen Nationen zurück - die Erstbesteigung des Mount Everest lag ja nur wenige Tage zurück. Die Öffentlichkeit und die Presse feierten diesen Triumph. Zeitschriften berichteten exklusiv, die Expeditionsteilnehmer veröffentlichten Bücher und hielten Vorträge, auch in der DDR. 1954 hielt Hermann Buhl in Dresden und Bad Schandau Vorträge und kletterte u.a. mit Dieter Hasse im Elbsandsteingebirge. IMAGO-Strahlbild aus Radebeul bei Dresden produzierte eine Dia-Reihe mit Aufnahmen der Expedition unter dem Namen „Schicksalsberg Nanga Parbat“. In Ost- und Westdeutschland konnte man sich die Helden von 1953 ins Wohnzimmer holen.

Wenige Monate nach der Erstbesteigung wurde der von Hans Ertl produzierte Farbfilm „Nanga Parbat“ in den Kinos veröffentlicht. Die Gipfelszenen von Hermann Buhl waren allerdings nachgestellt und inszeniert worden. In der DDR wurde der Film durch den PROGRESS Filmverleih gezeigt. Der Österreicher Hermann Buhl avancierte auch durch den Film zum Inbegriff des Bergsteigers und zu einem gesamtdeutschen Idol der Nachkriegszeit. Während das westdeutsche Plakat den stilisierten Hermann Buhl auf dem Gipfel präsentiert, zeigt das ostdeutsche Plakat die Silhouette eines einsamen, unscheinbaren Bergsteigers vor dem Silbersattel. Es knüpft an die ikonenhaften Aufnahmen von Erwin Schneider aus dem Jahr 1934 an, die eine einsame Fußspur von Uli Wieland am Silbersattel zeigen. Die Bildsprache und Kommentierung des Films von Hans Ertl, ein ehemaliger Mitarbeiter von Leni Riefenstahl, knüpfen stilistisch nahtlos an die Vorkriegszeit an. Der Film wurde 1953 sogar für den Bundesfilmpreis nominiert, erhielt jedoch nur eine Würdigung.

Auf nationaler Ebene bedeutete die Erstbesteigung des Nanga Parbats eine Art Vollendung. Allerdings kehrte am Berg keine Ruhe ein. Schon bald kam es zu einem öffentlichen Zerwürfnis zwischen dem Organisator Herrligkoffer und dem Bergsteiger Buhl, der sein individuelles Können - Herrligkoffer hatte u.a. seine Rückzugsbefehl in der Öffentlichkeit verschwiegen - nicht genügend gewürdigt sah. Weitere Tragöden begleiteten 1962 und 1970 die Zweit- und Drittbesteigungen auf anderen Routen.

Im Archiv des DAV befinden sich heute die Dokumente, Fotos, Filme etc. der Deutschen Himalaja-Stiftung und der Herrligkoffer-Stiftung, die die Expeditionen in der Vor- bzw. Nachkriegszeit organisiert hatten. Ruhe kehrt auch heute hier nicht ein. Das Archiv bearbeitet regelmäßig Anfragen zum Nanga Parbat - eines der anspruchsvollsten Themen und der „schwierigste“ Berg in unserem Archiv. Anfragen zu ihm sind manchmal ausgesetzte Gratwanderungen und führen über unberechenbare Gletscherspalten mit unergründlichen Abgründen. Jederzeit kann ein Sturm heraufziehen.

 

Stefan Ritter, Archiv DAV