Zwei ältere Männer beim Klettern am Fels
Bergsport kann nach Erkrankungen oder Operationen zu einer schnelleren Regeneration verhelfen. Foto: DAV/Christian Pfanzelt
Körpervertrauen

Fordern und fördern

Nach schweren Erkrankungen, Unfällen oder mit künstlichen Gelenken: Aktivität herunterfahren ist bei vielen Betroffenen ein intuitiver Impuls. Doch richtig ist das nicht. Ganz im Gegenteil.

Die Hüfte kaputt, ein künstliches Gelenk unausweichlich: Für Billi Bierling kam diese Nachricht wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Eben noch war sie mit einer Gruppe um den Manaslu (8163 m) gewandert. Wenige Tage später zurück in Kathmandu schaffte sie es kaum mehr von ihrem Fahrrad. Die Mittfünfzigerin aus Garmisch-Partenkirchen arbeitet seit zwei Jahrzehnten für die Himalayan Database, eine umfangreiche Chronik des Expeditionsbergsteigens in Nepal. Siebenmal stand sie auf dem Gipfel eines Achttausenders – auch auf dem Mount Everest. Und dann das!

Der Rat von Familie und im Freundeskreis: „Nimm es nicht auf die leichte Schulter.“ Billi Bierling unterschätzte das gesundheitliche Problem nicht. Und dennoch: Schon sieben Tage nach der Operation gab sie wieder ihre Online-Trainingskurse für die Rumpfmuskulatur. Fünf Wochen später ging sie wieder Joggen. Zwei Monate danach machte sie schon Skitouren. Und nach nur fünf Monaten war sie am Dhaulagiri (8167 m) im Himalaya unterwegs. Auf den Gipfel schaffte sie es zwar nicht, doch immerhin erreichte sie mit ihrem Ersatzgelenk das Lager 3 (7300 Meter). „Dass ich den Gipfel nicht erreicht habe, das hatte mit der Hüfte nichts zu tun“, ist sie sicher.

Aufbautraining-Tipps von Prof. Dr. Martin Halle, TUM

  • Start low, go slow: langsam beginnen, kontinuierlich steigern.

  • Mit Krafttraining der nicht betroffenen Extremitäten (Rumpf, Arme, Beine) starten.

  • Ganz gezielt auch die Koordination trainieren.

  • Ein kleines Intervalltraining zusammenstellen, bei dem sich Belastungs- und Erholungsphasen abwechseln.

  • Am besten mit mehreren kurzen Einheiten pro Tag beginnen. Schon fünf Minuten pro Einheit sind ausreichend.

Ganz klar: Billi Bierling ist nicht „der Normalfall“. Regelmäßige Bewegung und Sport sollten nach solchen Eingriffen oder längerfristigen Erkrankungen trotzdem zum Standardprogramm gehören. „Der menschliche Körper ist auf Bewegung ausgerichtet. Bewegung hält das Herz-Kreislauf-System in Schwung, fördert den Energiestoffwechsel, sorgt dafür, dass die Gefäße und das Herz geschmeidig bleiben. Gewisse Botenstoffe sorgen dafür, dass die Alterung des Gehirns durch die Bewegung verringert wird“, erklärt Prof. Dr. Martin Halle, Chef der Präventiven Sportmedizin und Sportkardiologie an der Technischen Universität München.

Es geht schnell dass man Muskulatur abbaut. Schon innerhalb von zwei Wochen geht sehr viel verloren.
- Prof. Dr. Martin Halle, Chef der Präventiven Sportmedizin und Sportkardiologie an der Technischen Universität München

Der Rat des Arztes und Wissenschaftlers: „Langsam anfangen und sich nicht übernehmen. Wenn man drei Wochen krank war, kann man nicht gleich an die Zeit vorher anknüpfen. Sich in so einer Situation zu übernehmen, ist eher kontraproduktiv“, sagt Halle. Trotzdem rät er dazu, so früh wie möglich wieder aufzustehen und den Körper so weit wie möglich zu belasten, statt sich auf dem Krankenlager gemütlich einzurichten: nach einem Unfall zum Beispiel das nicht verletzte Bein, die Bauchmuskulatur oder die Arme trainieren. „Es geht schnell, dass man Muskulatur abbaut. Schon innerhalb von zwei Wochen geht sehr viel verloren.“

Schnell wieder in Bewegung kommen, lautet die Devise nach Gelenkersatz-Operationen: Die Bergsteigerin und Himalaya-Chronistin Billi Bierling mit künstlicher Hüfte auf Bergtour. Foto: Christoph Miesch

Kraft und Vertrauen wiedergewinnen

Besonders bei schweren Erkrankungen rät er zu Bewegung. „Bei Krebs ist es besonders wichtig, fit zu sein. Das Immunsystem ist ganz entscheidend, um Krebs mit Chemo- und Strahlentherapie zu besiegen. Wenn die Muskulatur aktiviert ist, ist die Chemotherapie besser zu tolerieren“, erklärt der Mediziner. Nach einem Herzinfarkt muss zwar zunächst das Herz stabilisiert werden. Doch leichten Übungen mit einem Latexband, um die periphere Muskulatur in Armen und Beinen anzusprechen, stehe nichts entgegen, die Belastungen sollten nur nicht zu hoch sein. Auch Bergsport ist geeignet: „Beim Bergwandern lassen sich Ausdauer und Muskelkraft ausgezeichnet trainieren und die Belastungsintensität kann langsam erhöht werden. Insbesondere beim Bergabgehen wird die Oberschenkelmuskulatur trainiert. Und das Klettern verbessert Konzentration und Koordination“, greift Martin Halle zwei Ausprägungen des Bergsports heraus.

Bei Herzproblemen gilt: Höher als 2000 bis 2500 Meter sollte es wegen des abnehmenden Sauerstoffpartialdrucks nicht hinaufgehen. Und Betroffene müssen auf die Signale ihres Körpers hören: bei Luftnot, geschwollenen Beinen, Herz-Rhythmus-Störungen und Druck auf den Brustkorb Belastung sofort beenden. Spezieller ist die Situation bei Gelenkersatz. Sollte man mit einer künstlichen Hüfte oder einem künstlichen Knie besser auf Sport verzichten? „Hohe Stoßbelastungen und Wettkampfsport besser vermeiden. Taekwondo beispielsweise empfehlen wir nicht. Sonst gibt es aber keinen Grund, weshalb man mit einem Ersatzgelenk auf Sport verzichten sollte. Mit Abschluss der Reha ist die Belastung beschwerdeorientiert steigerbar und nach zwölf Wochen ist das Gelenk so fest, dass es auch voll belastbar und trainierbar ist“, sagt Björn Michel. Er ist Chirurg an der endogap Klinik für Gelenkersatz in Garmisch-Partenkirchen. Etwa 2200 gelenkersetzende Operationen werden dort pro Jahr durchgeführt.

Auffällig ist: Wer ein künstliches Kniegelenk hat, klagt öfter über Beschwerden und kehrt weniger häufig in die ursprüngliche Sportart zurück als mit künstlichem Hüftgelenk. Und insbesondere beim Bergabgehen gewöhnen sich Betroffene gern einen steifen Gang an. Doch dagegen lässt sich etwas tun, wie eine Studie der endogap Klinik gezeigt hat. „Es braucht eine gewisse Kraft für das Bergabgehen“, sagt Björn Michel. Zwölf Wochen haben sich die Teilnehmenden einem gezielten Training unterzogen. Das Ergebnis: Alle haben ihr Kraftniveau verbessert. Die Gangstörungen haben sich normalisiert. „Wir haben festgestellt, dass das auch in hohem Alter trainierbar ist und man sich nach einer Operation wieder gezielt auf eine Sportart vorbereiten kann“, sagt Michel. Nicht zu unterschätzen sei hier auch Stabilität in Rumpf und Becken.

Eine Studie konnte belegen: Gezieltes Training verbessert Kraft und Beweglichkeit nach Einsatz eines künstlichen Kniegelenks. Foto: endogap

Die Fachklinik für Gelenkersatz motiviert Menschen mit Hüft- oder Knie-Endoprothesen mit eigenen Sportkursen. „Gerade Wandern eignet sich gut, da lässt sich nämlich viel steuern. Und sei es, dass man für den Abstieg die Seilbahn nimmt“, sagt Björn Michel. Ob Wandern, Nordic Walking, Mountainbiken, Golfen, Skifahren oder Langlaufen, unter den kontrollierten Bedingungen von Sportkursen erhalten Patient*innen, die sich das allein nicht zutrauen, die Möglichkeit, Vertrauen zu finden in das neue Gelenk. Und erlangen damit auch den Spaß am Sport wieder zurück. Dabei kann es auch weit hinaufgehen. Das Ziel des Wander- Kurses: die Zugspitze.

Zurück zu Billi Bierling: Sie haderte nicht lange mit der Situation, sondern nahm sie an. Und gab dem neuen Gelenk sogar einen Namen: „Clarissa“ nennt sie es. „Schön, dass du da bist“, hat sie nach der OP gesagt. Ihr hat das geholfen. Letzten Sommer absolvierte sie wieder eine Variante der Ultra Tour Monte Rosa: 65 Kilometer, knapp 5000 Höhenmeter. Probleme: keine. Billi Bierling war und ist sehr trainiert und hebt sich damit vom sportlichen Durchschnitt ab. Trotzdem macht ihr Beispiel Mut und zeigt, was möglich sein kann.