Sonnenuntergang an der Küste
Sonnenuntergang über der Bucht von Laredo. Foto: Martin Stüllein
Wandern in Kantabrien

Bei Wolf und Bär in den Bergen am Meer

Kantabrien im Norden Spaniens liegt zwischen Atlantikküste und Hochgebirge. Hier hat sich in der Abgeschiedenheit der Berge eine intakte und wilde Umwelt erhalten. Diese ist vom Massentourismus bisher verschont geblieben, bietet dafür Wander- und Bergfans ursprüngliche Naturerlebnisse. Selbst der vielerorts ausgerottete Braunbär durchstreift dort mittlerweile wieder die Wälder.

„Ja, er kommt manchmal sogar nachts in den Ort, wir haben ihn neulich wieder beobachtet.“ Der ältere Herr spricht von dem Bären, der in den Wäldern um das Dorf lebt. „Aber es hat noch nie Probleme gegeben. Er scheut die Menschen – wenn, dann plündert er Bienenstöcke nach Honig.“ Die Wölfe jedoch, die hier umherstreifen, hätten schon öfters Schafe oder Ziegen auf der Weide gerissen. Was sich nach Geschichten aus vergangenen Zeiten anhört, spielt sich tatsächlich in Spanien ab, in den abgelegenen Winkeln des Kantabrischen Gebirges. Ich unterhalte mich mit dem Wirt eines Gasthofs in Caloca, einem archaisch anmutenden Bergdorf, eingerahmt von Wald, sanften Wiesen und Felsgipfeln.

Blick über eines der Hochtäler der Liébana mit den Dörfern Cucayo und Dobres. Foto: Martin Stüllein

Grüne Küsten und wilde Hochgebirge

Derartige Ortschaften, urtümlich und mit nahezu komplett erhaltener historischer Bausubstanz, sind charakteristisch für das ländlich geprägte Kantabrien. Mit einer Fläche von 5321 Quadratkilometern ist es die kleinste Autonome Gemeinschaft Festland-Spaniens nach La Rioja. Die Einwohnerzahl beläuft sich auf gut 580.000, wobei 173.000 in der Hauptstadt Santander wohnen. Jenseits dieses einzigen Ballungsraumes ist das Gebiet eher dünn besiedelt. Durchzogen wird es von der bis über 2500 Meter hohen Cordillera Cantábrica. Sie verläuft von den Pyrenäen westwärts entlang des Ozeans bis nach Galicien. Die Region ist bei ausländischen Gästen bisher noch relativ unbekannt, bietet aber eine Vielfalt an Landschaften und klimatischen Bedingungen: Die regenreiche grüne Küste, das wilde Hochgebirge, und an seiner südlichen Abdachung der Übergang in die trockeneren Hochflächen der Meseta. Dort entspringt der Ebro, Spaniens zweitlängster Fluss, der an der Grenze zur Provinz Burgos einen eindrucksvollen Canyon hinterlassen hat.

Winterstimmung an der Playa de Gerra bei San Vicente de la Barquera mit Blick auf die schneebedeckten Picos de Europa. Foto: Martin Stüllein

Der Parque Nacional Picos de Europa wurde 1918 als ältester Nationalpark Spaniens gegründet, ein Teil davon liegt auf kantabrischem Gebiet. Dazu sind in der autonomen Gemeinschaft fünf Naturparks und weitere Schutzgebiete ausgewiesen. Sieben Informationszentren bieten Ausstellungen zu den Besonderheiten der jeweiligen Gegend. Etwa die Casa de la Naturaleza im Bergdorf Pesaguero. Hier geben zahlreiche Exponate, Bilder und Videos Auskunft über Flora und Fauna der Liébana, wie die Gebirgsregion im Westen Kantabriens genannt wird. So auch über Bär und Wolf, deren präparierte Exkremente in einem Schaukasten liegen. Die Chance, den scheuen Tieren in freier Wildbahn zu begegnen, gilt hier als äußerst gering. Wer aufmerksam ist, kann ihre Hinterlassenschaften jedoch regelmäßig auf Wegen und Pfaden finden.

Die Bergwelt der Liébana

Der Braunbär, lateinisch Ursus arctos, war im Mittelalter noch auf dem gesamten europäischen Festland und den Britischen Inseln verbreitet. Durch Verfolgung und Lebensraumzerstörung wurde er dort seitdem fast ausgerottet. Während er in Deutschland als ausgestorben gilt, hat er sich in anderen Ländern Europas dank verschiedener Hilfsmaßnahmen wieder angesiedelt. Auch in Nordspanien, wo zwei Populationen im kantabrischen Gebirge leben. 2019 schätzte das spanische Umweltministerium den Bestand auf 300 Tiere. Davon leben etwa 40 im östlichen Verbreitungsraum, der eine kleine Fläche auf dem Gebiet von Asturien, Palencia und Kantabrien umfasst. Auch Teile der Liébana gehören dazu.

Ein guter Stützpunkt, um die Bergwelt der Liébana zu erkunden, ist der „Camping El Molino“ in La Vega. Der Platz ist schlicht und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Man wähnt sich auf einer Zeitreise 30 Jahre zurück. Ein Bach plätschert mitten durch die Wiese, auf der eine Gruppe holländischer Rentner*innen, sowie einige spanische Familien campieren. Bewaldete Hänge mit Steineichen und Esskastanien rahmen den Talboden ein. Pablo ist mit seiner Familie aus Santander angereist, um die beiden Kinder fürs Wandern und die Berge zu begeistern. „Letzte Nacht huschte ein großes graues Tier über das Gelände, ich bin mir sicher, einen Wolf beobachtet zu haben“, erzählt Pablo begeistert. Für die kommende Nacht mache ich einen Test und lege ein Stück Salami in die Nähe meines Busses. Und tatsächlich – lange warten muss ich nicht, bis die Kreatur aus dem Schutz der Dunkelheit abermals auftaucht und sich den Happen schnappt. Allerdings handelt es sich bei dem vermuteten „Wolf“ nur um einen der Hirtenhunde, die hier im Tal frei umher schweifen.

Rundum-Panorama mit hohen Bergen

Von La Vega führt eine Straße auf engen Serpentinen hinauf nach Cucayo. Das Dorf liegt in einem abgeschiedenen Hochtal auf 950 Metern. Von hier aus lassen sich mehrere Gipfel besteigen, wie etwa der 2002 Meter hohe Pico Bistruey. Beim Aufstieg wandere ich durch ursprüngliche Buchenwälder und über sanftes Almgelände, wo jetzt, im Frühsommer, die Bergwiesen in voller Blüte stehen. Danach wird die Landschaft mit jedem Schritt karger. Ein letzter anstrengender Aufschwung führt den Gipfelhang empor, wo eine kleine Betonsäule den höchsten Punkt markiert. Hier wird man mit einem Rundum-Panorama belohnt. Die höchsten Berge der Kette ragen im Umkreis auf, wie Peña Prieta, Pico Curavacas, oder die Picos de Europa. Ein perfekter Brotzeitplatz. Apropos Essen, das besteht in dieser Region aus typisch deftiger Gebirgsküche. Cocido montañés, ein Eintopf mit weißen Bohnen, Kohl, Blutwurst und Fleisch, ist einer der Klassiker. Ein genauer Blick auf die Karte empfiehlt sich aber, sonst hat man schnell einmal Kutteln (callos) oder Lammfüße (manitas de cordero) auf dem Teller.

Aufstieg zum Pico Salpico bei Sonabia: Die raue Küste mit ihrem feuchten Atlantikklima erinnert oft eher an Irland oder Norwegen als an spanische Klischees. Foto: Martin Stüllein

Die interessante Rundtour-Variante auf die Peña Prieta, zu Deutsch „Dunkler Berg“, vom Puerto de San Glorio aus, ist eine Unternehmung für ambitionierte und bergerfahrene Menschen. Die Mühe: unmarkierte Pfade, leichte Kletterei und Abstiege über steiles Geröll. Der Lohn: eine wilde Hochgebirgslandschaft inmitten unendlicher Weite, eiszeitlicher Gletschertäler, Karseen und ein Logenblick auf die Picos de Europa.

Tausende Höhlen und urtümliche Kulturen

Fahrt Richtung Osten. Die Route verläuft am Río Miera zwischen den steilen Wänden einer zerklüfteten Felslandschaft. Der Kalkstein ist verantwortlich für eine Besonderheit Kantabriens: Durch starke Verkarstung haben sich riesige unterirdische Fluss- und Höhlensysteme gebildet. Rund 6500 Höhlen sind dokumentiert. Die Cueva de Altamira ist eine der weltweit bedeutendsten Fundstätten steinzeitlicher Höhlenmalereien und gehört zum UNESCO-Welterbe. In der Cueva del Mirón bei Ramales de la Victoria wurde 2010 das 18.700 Jahre alte Skelett eines Cro-Magnon-Menschen gefunden, die sogenannte „Dama Roja de El Mirón“.

Das Tal des Río Miera gehört zu den Valles Pasiegos, einer der entlegensten Gegenden Kantabriens, in der sich eine urtümliche Bergbauernkultur bewahrt hat. Überall finden sich noch die Cabañas Pasiegas, mit Schindeln gedeckte alte Steinhäuser. Die Behausungen dienten traditionell als Wohnraum, Stall und Scheune unter einem Dach. Östlich des obersten Miera-Tals beginnt der Parque Natural Collados del Asón, einer der landschaftlichen Höhepunkte. Vom Talschluss mit den eiszeitlichen Gletschermoränen führt eine wilde Straße zum Portillo de Lunada, dem Übergang zur Provinz Burgos. Am Pass bekomme ich erst einmal Besuch von einer Herde halbwilder Pferde.

Tierische Begegnungen am Portillo de Lunada. Foto: Martin Stüllein

Von hier mache ich mich auf den Weg zum 1718 Meter hohen Castro Valnera, der wie eine grüne Festung mit seinen von Felsbändern durchzogenen Steilgraswiesen über dem Talkessel aufragt. Ich wähle die Route über den exponierten Pico de la Miel, wo ich in stetigem Auf und Ab einige sehr steile Abschnitte überwinde, um am Gipfel dann in dichtem Nebel zu stehen. War diesmal leider nichts mit der Aussicht bis zum Meer, aber Wetterumschwünge gehören eben unvermeidlich zu Nordspanien. Dafür habe ich am Ostrand des Naturparks mehr Glück und wandere bei Sonnenschein auf gemütlichem Weg zum Nascimiento del Asón. Passend für heiße Tage, führt die familienfreundliche Tour durch ursprünglichen Wald und entlang des Río Asón, der am Talende spektakulär entspringt: Als 70 Meter hoher Wasserfall stürzt er eine senkrechte Felswand hinab.

In den Seitentälern von Río Nansa und Río Saja gibt es viele reizvolle Wanderungen am Wasser. Hier beim Pozo del Infierno, dem „Höllenbrunnen“ bei Viaña. Foto: Martin Stüllein

Je tiefer man in die Region Kantabrien eintaucht, desto deutlicher wird die Fülle an Naturschätzen, die sie bietet. Dabei handelt es sich überwiegend um Attraktionen abseits des touristischen Mainstreams, die von der Küste aus allesamt in weniger als eineinhalb Stunden Fahrzeit erreichbar sind. Selbst im Hochsommer hat man beim Wandern die Routen oft ganz für sich allein, abgesehen von einzelnen Hotspots und der gut besuchten Küste. Und auf einem der vielen einsamen Waldwege mache ich schließlich noch einen denkwürdigen Fund: frischen Bärenkot. Das sorgt für ein mulmiges Gefühl, doch ich halte mich an den beruhigenden Ratschlag des Wirts aus Caloca: „Wenn du allein unterwegs bist und willst, dass der Bär sich fern hält, dann mache ihn auf dich aufmerksam. Singe einfach laut ein Lied.“

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