Auf Skitour unterwegs
Ein solides Risikomanagement ist der Schlüssel zu sicheren Skitouren. Foto: DAV/Klaus Listl
Risikomanagement im Wintersport

Gute Entscheidungen im Lawinengelände treffen

Lawinenunfälle gibt es nicht allzu häufig, sie sind aber oft tödlich. Und sie sind kein Schicksal: Die allermeisten Betroffenen haben „ihre“ Lawine selbst ausgelöst. Deshalb steht jede Unternehmung im freien winterlichen Gebirge unter dem Stichwort „Risikomanagement“ – ein aktueller Überblick.

Winterliches Bergsteigen, egal ob mit Ski, Splitboard, Schneeschuhen oder Steigeisen, ist eine Kernsportart im DAV. Die Gefahr, dabei eine Lawine auszulösen, ist nie gleich Null. Die Tourenplanung und Maßnahmen unterwegs auf die aktuellen Bedingungen abzustimmen, ist daher erste Pflicht für alle Menschen, die im freien alpinen Gelände unterwegs sind. Ziel ist, das reale Risiko auf ein akzeptables Maß zu „managen“. Für diese Aufgabe hat sich heute folgende Formel etabliert:

G x K - M = R

G ist dabei die Gefahr, in einem bestimmten Hang eine Lawine auszulösen: die Auslösewahrscheinlichkeit.

K sind die Konsequenzen, die ein Lawinenabgang für betroffene Personen hat.

M steht für die Maßnahmen zur Reduktion von Auslösewahrscheinlichkeit und/oder Konsequenzen.

R ist das resultierende Risiko.

Das Problem dabei ist der Faktor Auslösewahrscheinlichkeit G. Denn die Schneeforschung versteht zwar heute ziemlich genau, wie Schneebrettlawinen funktionieren, welche physikalischen Vorgänge bei Bruchinitiierung und Bruchfortpflanzung ablaufen. Aber das individuelle Risiko, an einem bestimmten Tag einen bestimmten Hang auszulösen, lässt sich nicht exakt quantifizieren.

Risikomanagement hat viele Facetten. Die drei Treppenstufen und die drei linken Säulen finden sich im Prinzip 3x3 und im Lawinenmantra wieder. Illustration: Georg Sojer

Zum Umgang mit dieser Unsicherheit gibt es zwei generelle Strategien, die sich dem Problem aus zwei unterschiedlichen Richtungen nähern – einerseits ausgehend von regionalen oder überregionalen Lawineninfos aus dem Lawinenlagebericht (LLB), andererseits durch eigene lokale oder punktuelle Erkenntnisse:

  • die probabilistische, also statistikbasierte: Verzicht auf bestimmte Hänge, je nach Lawinenwarnstufe. Ein Werkzeug dafür ist etwa die DAV-SnowCard

  • die analytische: Abschätzung möglicher Bruchmechanismen durch Berücksichtigung lokaler Wetter-, Schneedecken- und Geländeinfos (z.B. Gefahrenzeichen)

Sinnvollerweise kombiniert man beide Strategien – wobei die analytische vertiefte Kenntnisse der Lawinenkunde voraussetzt. Mit steigender Erfahrung wird die analytische Betrachtungsweise immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wer im lawinengefährdeten Gelände nichts übersehen will, braucht ein System; es schafft Klarheit, an welchem Punkt des Entscheidungsprozesses welche Informationen relevant sind. Ein grundlegendes System ist das ursprünglich von Werner Munter propagierte 3x3-Prinzip. Es gliedert eine Tour in drei Phasen:

  1. „Planung“ (welche Tour ist sinnvoll?),

  2. „vor Ort“ (Vorstellung = Realität? Laufend beobachten, allenfalls Planung revidieren) und

  3. „am Einzelhang“ (ist das Risiko vertretbar, sind Vorsichtsmaßnahmen oder Verzicht angeraten?)

In jeder dieser Phasen werden die Einflussfaktoren „Gelände“, „Verhältnisse“ und „Faktor Mensch“ erfasst und beurteilt und man ergreift angemessene Maßnahmen dagegen, von Gruppenorganisation bis Verzicht. Was „angemessen“ ist, beurteilt man mit verschiedenen Tools und Betrachtungen; dafür hat sich im DAV das Lawinenmantra etabliert. Es kombiniert die probabilistische und analytische Methode zur Gefahrenbewertung mit einer Konsequenzanalyse, möglichen Maßnahmen und dem Faktor Mensch und wird ständig durchgespielt – mantraartig eben.

Lawinenstrategie ganz einfach

Wer wenig Kenntnisse und Erfahrung hat oder einfach nur einen schönen Tag draußen erleben möchte, kann mit Bereitschaft zur Selbstbeschränkung auch mit einfachen Faustregeln geeignetes Tourengelände auswählen, um mit sehr niedrigem Gesamtrisiko unterwegs zu sein:

  • nur viel begangene und aktuell flächig verspurte Touren unternehmen

  • Hänge >30°, die in der Kernzone laut LLB liegen, vermeiden

  • Ab Lawinengefahrenstufe 3 auf Touren im ungesicherten Gelände verzichten

Aus übergeordneter Perspektive gehören zum Risikomanagement noch die Elemente „Reflektion“ nach der Tour, um für künftige Unternehmungen dazuzulernen, und „Notfallhandeln“, also die Fähigkeit, etwa nach einem Lawinenabgang schnell Verschüttete zu orten, auszugraben und zu versorgen. Die wesentliche Informationsgrundlage für sämtliche Strategien ist der Lawinenlagebericht. Diese Fakten tagesaktuell abzurufen und auszuwerten, ist fundamentale Sorgfaltspflicht im winterlichen Gelände.

Wer sich anstelle restriktiver Faustregeln mehr Freiraum erarbeiten und sich selbstständig neues, v.a. unverspurtes Gelände erschließen will, sollte viel wissen und verstehen (und danach handeln), um nicht zu gefährlich zu leben. Um die Transparenz zum grundlegenden GKMR-Prinzip herzustellen, wurde das Lawinenmantra für die aktuelle Saison in Details angepasst.

Wie funktioniert das Lawinenmantra?

Das Lawinenmantra strukturiert die Entscheidungsfindung in allen Tourenphasen. Alle fünf „Blasen“ der Grafik werden dabei gebetsmühlenartig durchgespielt. Die vorgegebene Reihenfolge hat das methodische Lernziel, die fünf Punkte zu verinnerlichen, um in der Praxis keinen zu vergessen oder (un-)bewusst unter den Tisch fallen zu lassen.

Das Lawinenmantra strukturiert alle Aspekte der Risikoentscheidung, damit in keiner Tourenphase etwas übersehen wird: 1) Probabilistik 2) Analytik 3) Konsequenzen 4) Maßnahmen 5) Faktor Mensch. Illustration: Georg Sojer
  1. Probabilistik: Jede lawinenrelevante Entscheidung sollte durch ein probabilistisches Tool überprüft werden. Die SnowCard oder skitourenguru.ch helfen, sich bei der Tourenauswahl auf Gelände mit geringem Gesamtrisiko zu begrenzen. Will man unterwegs Gelände begehen, das nach SnowCard gelb, orange oder rot ist, sollte man dafür klare Argumente haben, warum das aktuelle Lawinenproblem laut LLB hier nicht relevant ist.

  2. Analytik: Jede lawinenrelevante Entscheidung muss durch lokale Informationen konkretisiert werden.

  3. Konsequenzen: „If snow is the question, terrain is the answer!“ – insbesondere dann, wenn die Schneedeckenverhältnisse schwierig einzuschätzen sind, ist die Risikominimierung durch taktisch kluge Geländewahl entscheidend. Bei diesem Schritt geht es um die Frage: Welche Folgen drohen bei einer Lawinenerfassung und wie schwer wiegen sie? Die drei Aspekte mechanische Verletzungen, Verschüttung und involvierte Personen sollten unabhängig voneinander beurteilt werden.

  4. Maßnahmen: Konkrete Verhaltensmaßnahmen können insbesondere an Schlüsselstellen das individuelle Risiko einer Lawinenauslösung reduzieren. Sie dienen entweder der Verringerung der Auslösewahrscheinlichkeit, etwa Entlastungsabstände, und/oder der Verringerung der Konsequenzen – etwa durch Umgehung, Einzelbefahrung, sichere Sammelpunkte mit Sichtkontakt und schneller Handlungsmöglichkeit.

  5. Faktor Mensch: Nobody's perfect. Die menschliche Fehlbarkeit kann auf unterschiedlichste Art und in allen Phasen der Entscheidungsfindung wirken, etwa in Form von Druck, Wahrnehmungsfallen, Sinnestäuschungen, Gruppenphänomenen, mangelnder oder unklarer Kommunikation. Gegen mögliche Fallstricke gibt es kein Patentrezept – am ehesten noch: sie zu kennen, in der realen Situation zu erkennen und in der Gruppe auch anzusprechen.

Der LLB beurteilt größere Regionen; kleinräumig kann die Gefahr größer oder kleiner sein. Lawinenkundliches Knowhow kann also Freiräume erweitern (hier weniger gefährlich) oder vor Fallen schützen (hoppla, hier gefährlicher als gedacht). Lokale analytische Gefahrenbeurteilung bedeutet konkret:

  • Erkennen relevanter Lawinenprobleme (Basis: LLB) und von konkreten Alarmzeichen.

  • Erkennen des tatsächlich relevanten Einzugsbereiches. Dieser hängt primär ab vom Relief und tendenziell vom vorherrschenden Lawinenproblem.

  • Aus vorhandenen Spuren oder verspurtem Gelände kann man – abhängig vom Lawinenproblem – auf die Auslösewahrscheinlichkeit von Lawinen schließen.

  • Wie stark ist das relevante Lawinenproblem ausgeprägt, also wie hoch ist die Auslösewahrscheinlichkeit für ein Schneebrett (Möglichkeit für Bruchinitiierung und Bruchfortpflanzung). Primäre Informationsbasis dafür ist der LLB. Im Gelände nutzt man dann weitere Indizien wie die „Kritische Neuschneemenge“, frischen Triebschnee oder Schneedeckenuntersuchungen und -tests.

  • Abschätzung der Variabilität der Schneedecke im konkreten Hang: Ist die Schneedecke überall ähnlich? Sonstige Geländefaktoren?

Risikoabschätzung in der Planungsphase

Für den ersten Mantra-Durchlauf und als Grundlage einer guten Planung braucht man aktuelle und relevante Informationen:

  • Regionale, amtliche Lawinenprognose (LLB) als Ausgangsbasis: Welche Lawinenprobleme sind wo zu erwarten? Wie gravierend sind sie (wie leicht lassen sich Lawinen auslösen)?

  • Ergänzende Wetterprognose durch detaillierten Gebirgswetterbericht.

  • Geländeinformationen aus topografischen Karten, Hangneigungskarten, ggf. Luft-/Satellitenbildern oder neuen thematischen Lawinengeländekarten (alpenvereinaktiv.com, skitourenguru.ch).

  • Beteiligte Personen: Motivation, Kompetenzen und jeweilige Rollen sollten geklärt werden. Absprache über Erwartungen und Verantwortung.

Vorsicht bei Infos aus Tourenportalen/Social Media: Beschreibungen sind oft stark subjektiv und schwer zu verifizieren. Verhältnisse können bereits am Folgetag ganz anders sein.

Sind alle notwendigen Infos bekannt, erstellt man einen sinnvollen Gesamtplan. Wie im Sommer gehört dazu zunächst Klarheit über den Routenverlauf mit bildhafter innerer Vorstellung („mental map“; der GPS-Track sollte nur Backup sein), ein realistischer Zeitplan dazu und die angebrachte Ausrüstung.

 Wichtig im Winter ist nun das Identifizieren von „Schlüsselstellen“ mithilfe der sog. 30°-Methode: Steilgelände über 30° ist grundsätzlich potenzielles Lawinengelände. Alle Hänge über 30° Neigung im unmittelbaren Routenverlauf wie auch in möglichen Einzugsgebieten müssen deshalb mit den Infoquellen genauer analysiert werden. Danach bleiben als relevante Schlüsselstellen:

  • Bereiche mit erhöhtem Risiko nach SnowCard (gelb, orange, rot),

  • alle Hänge steiler als 30° innerhalb der Kernzone des Lawinenlageberichts,

  • Bereiche offensichtlich großer Konsequenzen (Folgenschwere ernsthaft bis fatal).

In der Tourenplanung legt man Checkpunkte im sicheren Bereich davor fest, an denen die konkrete Entscheidung getroffen wird.

Risikobeurteilung im Gelände

Schon während der Anreise (Schneefahnen an Graten?), am Startpunkt (Neuschneemenge?) und auf Tour (Wumm-Geräusche?) ist die erhöhte Aufmerksamkeit gefragt, um die Vorannahmen aus der Tourenplanung mit der Realität abzugleichen und zusätzliche Informationen zu verarbeiten.

Sobald eine neue Geländekammer betreten oder sichtbar wird oder man in den Einzugsbereich eines neuen Steilhanges (>30°) kommt, steht eine konkrete Risikoentscheidung an. Idealerweise hat man diese Stellen bereits in der Tourenplanung als Schlüsselstellen erkannt, muss also nicht bei Null beginnen, sondern kann sich für die finale Durcharbeitung des Lawinenmantras auf etwaige Veränderungen konzentrieren.

Der erste und komplexeste Punkt dabei ist die Abschätzung der Auslösewahrscheinlichkeit. Die Probabilistik gibt dafür den ersten Wert aus; der reale Blick auf den Hang verfeinert die Einschätzung für Hangsteilheit oder lawinenrelevante Geländeformen. Für die analytische Betrachtung können nun auch Schneedeckentests an geeigneten Stellen Input liefern. Auf welche Fragen man Antworten sucht, ergibt sich aus den fünf typischen „Lawinenproblemen“ laut LLB, wie beispielsweise:

  • Neuschneeproblem: Locker oder gebunden? Schichtgrenzen im Neuschneepaket? Kritische Neuschneemenge erreicht? Beschaffenheit der Altschneedecke?

  • Triebschneeproblem: Wo liegt frischer Triebschnee? Wie mächtig ist er und auf welcher Art von Schneeoberfläche (locker? homogen?) liegt er?

  • Altschneeproblem: Schwachschichten in der Schneedecke (große, kantige Formen, Reif, Becherkristalle, …)? Wie ist der Schneedeckenaufbau räumlich verteilt?

  • Generell: Welcher Einzugsbereich ist relevant beim konkreten Gelände und Lawinenproblem? Sind typische Alarmzeichen wie aktuelle Schneeverfrachtung, frische Lawinen, Rissbildung („shooting cracks“) oder Setzungsgeräusche wahrnehmbar?

Positiv zu bewerten sind frische Spuren, eine flächige Befahrung des Geländes, viel begangene Touren. Dort sind Lawinenauslösungen zwar nicht ausgeschlossen, aber deutlich unwahrscheinlicher.

Für die Punkte 3 und 4 des Lawinenmantras profitiert man auch vom Anblick der Realität: Die Konsequenzen eines Lawinenabgangs lassen sich im Gelände besser abschätzen, Maßnahmen wie Entlastungabstände oder Spurkorridore exakter lokalisieren. Zum „Faktor Mensch“: Ein „schlechtes Bauchgefühl“ ist ernstzunehmende Warnung, ein gruppendynamisches „passt schon“ ist gefährlich.

Mit Hilfe dieser Faktoren lassen sich die möglichen Konsequenzen bei einem Lawinenabgang abschätzen. Quelle: Faltblatt Achtung Lawinen! Bayerisches Kuratorium für alpine Sicherheit

Reflexion

Gutes Risikomanagement im Lawinengelände ist nicht angeboren. Durch Beinahe-Unfälle kann man zwar viel lernen, aber auch verlieren. Weniger risikoreich ist Erfahrungslernen, indem man nach der Tour in der Gruppe die gesammelten Eindrücke einordnet und die getroffenen Entscheidungen ohne Bewertung noch einmal überprüft. Leitfragen können lauten: Was lief gut, was nicht? Gab es Situationen, in denen sich einzelne Gruppenmitglieder unwohl fühlten? Wann und wo stimmte das Bild aus der Planung (nicht) mit der Gelände-Realität überein? War die Planung flexibel genug, oder zu starr auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet? Hat man sich von Gruppenprozessen zu Entscheidungen hinreißen lassen, die man in der Planung eigentlich ausgeschlossen hatte? Was würde ich das nächste Mal genauso, was anders machen?

Notfallkompetenz

Ein angemessenes Risikomanagement im Lawinengelände hilft hoffentlich, nie in eine Lawine zu kommen. Passiert dennoch ein Lawinenunfall, ist neben regelmäßigem Training und kühlem Kopf die vollständige Notfallausrüstung (3-Antennen-LVS-Gerät, Sonde, Schaufel) Voraussetzung für eine effiziente Kameradenrettung, denn: In den ersten 15 Minuten ist die Chance noch halbwegs gut, eine ganz verschüttete Person lebend zu bergen. Für die Erstversorgung braucht man dann Biwaksack, Rettungsdecken, warme Kleidung und im Fall der Fälle auch ein Erste-Hilfe-Päckchen.

Buchtipp

Fleischmann, Mersch, Mittermayr: Lawinen. Erkennen, Beurteilen, Vermeiden. Bergwelten Verlag 2021.