Illustration: Eine Wanderin auf einer Hängeseilbrücke, die zwischen zwei Felsen gespannt ist.
Bedrängnissituation am Berg: Höhenangst. Illustration: Marmota Maps/Lana Bragin
Gesundheit

Höhenangst

Kennst du das?: Ich fühlte Höhenangst bzw. Höhenschwindel: An ausgesetzten Stellen bzw. Stellen mit Tiefblick Schwindelempfinden und Angst, den Halt oder das Gleichgewicht zu verlieren; Anspannung, Schweißausbrüche, Zittern (kann auch mit Hyperventilationssymptomen verbunden sein).

Faustregel

Gewöhne deine Augen an Tiefblicke und setze frühzeitig Techniken ein, mit denen sich Höhenangst vermindern lässt.

Geltungsbereich

Höhenangst bzw. Höhenschwindel ist klar von Panik abzugrenzen. Eine Panik ist mehr als nur ein Zustand starker Angst. Eine Panikattacke ist ein Zustand intensiver, bedrohlicher Angst und/oder massivem Unbehagen. Als Betroffene*r erlebt man während einer Panik das Gefühl, die Kontrolle über sich selbst und die Situation zu verlieren. Hat man „nur“ Höhenangst bzw. Höhenschwindel, erlebt man diese Extreme – glücklicherweise – nicht. 

Ad-hoc-Maßnahmen und -Verhalten

Je eher du mit einfachen Sofortmaßnahmen beginnst, desto besser. Das heißt bereits bei immer wiederkehrenden Gedanken, dass es gerade immer unangenehmer wird. Oder sobald du merkst, dass du unruhiger und angespannter wirst. Auch, bevor du in anspruchsvolles Gelände kommst oder schon bei leichtem Schwindelgefühl.

Treten diese leichten und immer stärker werdenden Symptome auf, kannst du dir versuchen zu helfen, indem du deine Aufmerksamkeit verschiebst. Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten:

  • Halte kurz inne und sammle dich mental an Ort und Stelle. Dazu gehört, dass du dir vor Augen führst, welche Gegebenheiten dir jetzt Sicherheit spenden können, z. B. feste Griffe und Tritte oder eine breitere Wegstelle, die schon in Kürze kommt oder ähnliches.

  • Lenke deine Aufmerksamkeit auf deine Atmung und beruhige deine Atmung. (Siehe auch Hyperventilation).

  • Achte, während du deine Atmung beruhigst, auch auf deine gesamte Körperspannung. Nimm sie positiv wahr, denn sie ermöglicht dir in diesem Augenblick, dass du stabil und sicher auf dem Weg verweilst. Hast du dich gesammelt, kannst du auch deine Körperspannung dosiert und bedacht reduzieren: eventuell lockerst du den Griff deiner Hände etwas, auch deinen Oberkörper kannst du vielleicht etwas entspannen.

  • Verändere deine Kopfhaltung und den Fokus deiner Augen nur langsam: schnelle Kopfbewegungen oder Fokuswechsel und damit Veränderungen des visuellen Inputs sowie des peripheren Sehens können Schwindel verstärken. Das Gleichgewichtsorgan im Ohr wertet auch die „Lagen“ der einzelnen Körperteile aus. Schnelle Bewegungen sind für das Hirn hinderlich, diese Informationen auszuwerten.

  • Mach auf dein Unwohlsein aufmerksam und bitte um Unterstützung: Es kann helfen, jemanden in unmittelbarer Nähe zu spüren. Wenn sich in der Gruppe jemand mit Seiltechnik auskennt und ihr entsprechend ausgerüstet seid, kannst du dich ggf. an der kritischen Wegpassage sichern lassen.

  • Entscheide, ob du die Stelle gehen oder vermeiden möchtest (letzteres bedeutet Umgehung oder gar Verzicht auf die weitere Tour).

  • Beruhige dich mit inneren positiven Selbstgesprächen, mit denen du Selbstvertrauen aufbaust bzw. wiedererlangst. („Ich kann das! … Konzentriere dich auf deine Tritte! …Schritt für Schritt!“)

  • Begehe exponierte Passagen konzentriert und aufmerksam: mit langsamen, bewusst gesetzten Schritten können die meisten Stellen auf Wanderwegen bewältigt werden. Zerlege dir den betreffenden Wegabschnitt mental in mehrere kürzere Teil-Passagen (z. B. die kommenden fünf Meter, bis der Weg wieder breiter wird). An weniger exponierten Stellen kannst du dich wieder sammeln, deine Atmung bewusst gestalten, positive Selbstgespräche führen, dir kleine Erfolge vor Augen führen („die letzten drei Schritte waren ganz ok“) und dich dann wiederum auf die nächste Teil-Passage konzentrieren.

Konzentriertes Gehen kann helfen, Höhenangst zu überwinden und somit vermeintliche Hindernisse zu meistern. Foto: AdobeStock

Theoretischer Hintergrund

Die gute Nachricht ist: Jedes Auge muss sich an Tiefblicke und Ausgesetztheit gewöhnen. Das liegt daran, dass wir in unserem Alltag meist an eine flache und mit Gegenständen bestückte Umwelt gewohnt sind.

Unser im Ohr befindliches Gleichgewichtsorgan wertet für unsere Orientierung im Raum neben vielen anderen Rückmeldungen aus dem Körper auch visuelle Informationen aus. Dies sind vor allem Informationen aus dem peripheren Gesichtsfeld, also den „Rändern“ dessen, was wir sehen. Wenn das Gleichgewichtsorgan nun keine orientierenden Informationen (sichtbarer Boden, Gegenstände in der Nähe) erhält, kann es uns nicht klar im Raum verorten – wir fühlen uns bewegungsunsicher, schwummrig, schwindlig.

Hinzu kommt: Das Gleichgewichtsorgan reagiert schnell auf Änderungen. Biegen wir beispielsweise auf einem flachen Weg um eine Ecke und links bricht der Hang unerwartet steil ab, dann bricht auch die gewohnte Orientierungsleiste des mehr oder weniger ebenen Geländes links von uns weg. Das Gleichgewichtsorgan hat plötzlich zu wenig Anhaltspunkte und wir können Höhenschwindel fühlen oder sogar Höhenangst spüren.

Das Gehen bedarf dann größerer Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Angst an ausgesetzten Stellen ist normal, weil ein Absturz ja tatsächlich ernste Folgen nach sich ziehen kann. Daher ist eine gewisse Anspannung zu erwarten, v. a. wenn es sich um die erste oder zweite ausgesetzte Passage im Jahr handelt.

Die gute Nachricht bei Höhenangst: an Tiefblicke lässt sich mit etwas Übung durchaus gewöhnen. Foto: AdobeStock

Entwicklungsperspektive

Die meisten Menschen können sich bis zu einem gewissen Grad an ausgesetzte Stellen gewöhnen. Das heißt nicht, dass ihnen diese Stellen nichts mehr ausmachen; es meint lediglich, dass sie an diesen Stellen ihre Unsicherheit und Angst kontrollieren: Sie können sicher Schritt für Schritt gehen in dem mitlaufenden Bewusstsein, dass ein Fehler im schlimmsten Fall tödlich sein kann.

Wenn du deine Trittsicherheit verbessern möchtest, gibt es viele Balanceübungen, die richtig Spaß machen und die du fast überall üben kannst:

  • Zähne putzen auf einem Bein (schwieriger ist es mit geschlossenen Augen)

  • An unterschiedlichsten Stellen balancieren: auf Baumstämmen oder dicken Ästen am Wegesrand (Vorsicht: das Holz sollte trocken sein!); über größere und kleinere Steine am Bachbett oder Wanderweg („richtigen“ Boden betreten verboten)

  • Plätze suchen, auf denen du einbeinig gerade so stehen kannst (Kissenberg, Bachkiesel) und dir selber Dinge von einer Hand in die andere werfen oder sich zu zweit zuwerfen … der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt

Tiefblicke können wir im Alltag nicht wirklich üben. Also wird sich, wenn du längere Zeit nicht im exponierten Gelände unterwegs warst, dein Gesichtsfeld immer wieder auf Neue an die veränderte Perspektive gewöhnen müssen. Gib deinem Gehirn genügend Anpassungszeit und bewege dich zu Beginn deiner Bergunternehmung etwas langsamer als gewohnt an exponierten Passagen.

Mit einem gezielten Mentaltraining am Berg kannst du deine mentale Stärke, dein Selbstvertrauen und deinen Umgang mit Nervosität bzw. Unsicherheiten im exponierten Gelände bis hin zur Höhenangst trainieren: Mit Hilfe von bewusster Atmung und Körperhaltung, Aufmerksamkeitssteuerung und Selbstgesprächen sowie Visualisierungsübungen lernen Teilnehmende eines solchen Trainings, mit Unsicherheiten und Ängsten umzugehen, sie regulieren und schlussendlich sogar kontrollieren zu können. Nimmst du an einem Mentaltraining teil, wirst du Schritt für Schritt an exponiertes Gelände herangeführt, so dass eine Art Gewöhnungseffekt eintreten kann. Solch ein „Gewöhnungstraining an ausgesetzte Bergwege“ verändert nicht die Gefahr selbst. Das Begehen ausgesetzter – und damit absturzgefährdeter – Passagen lehrt dich vielmehr das bewusste Entscheiden, ob du eine solche Gefahr zukünftig aufsuchen möchtest.

Übrigens: Nicht alle Menschen sind in der Lage, sich durch Training an ausgesetzte Bergwege zu gewöhnen. Souveränitätsgefühl kann nicht erzwungen werden. Schlussendlich musst du für dich selbst herausfinden, wo deine persönliche Wohlfühlgrenze aktuell liegt und wie weit du diese verschieben möchtest und kannst.

Noch ein Hinweis: Bevor du mit einem „Gewöhnungstraining“ bzw. einem Mentaltraining am Berg beginnst, prüfe bitte auch, ob die Symptome ggf. durch Faktoren bedingt sind, die außerhalb der Situation liegen, beispielsweise Probleme beim Sehen (Brille), Probleme im Halswirbelsäulenbereich, Erschöpfung und Unterzuckerung oder Dehydrierung.

Literaturtipp: Hilfreiche Hinweise und Übungen findest du im Buch „Mental stark am Berg“ von Maya Lalive/Jan Rauch (Schweizer Alpen Club, SAC) und im Buch „Berggenuss statt Höhenangst“ von Petra Müssig.