Blick über italienisches Bergdörfchen
Blick über Tione – eines der vielen Dörfchen, das man auf dem Cammino San Vili durchwandert. Foto: Julia Behl
Cammino San Vili

Borghi più belli

Immer nur hoch hinaus? Im Trentino kann man auch gut mal runterkommen. Die ganz hohen Gipfel bestaunt man auf dem Cammino San Vili nämlich eher aus der Ferne – dafür kann man viel erfahren über Kultur, Kulinarik, Tiere und Pflanzen am Rand des Wegs, der sich in gemäßigter Höhe entlang des Naturparks Adamello-Brenta schlängelt.

Treffpunkt ist die Kirche San Vigilio in Spiazzo. Passend, denn hier begann das Martyrium des Bischofs und heutigen Schutzheiligen von Trient, nach dem der Cammino San Vili benannt ist. San Vili, weil man den Heiligen Vigilio im alten Trentiner Dialekt eben unter diesem Namen kannte. Und so ist die Legende über seine letzte Missionarsreise auch der Einstieg in unsere erste Etappe auf dem Pilger- und Wanderweg. Wo heute die Kirche steht, soll Vigilio im Jahr 405 mit den dort lebenden Bergbauern eine Messe für ihre Gottheit Saturn gefeiert haben. Dass die damalige Bevölkerung nicht zimperlich war, zeigte sie, als Vigilio die Gottesstatue in den nahen Bergbach Sarca warf: prompt ereilte den Bischof dasselbe Schicksal. Erst neun Kilometer flussabwärts in Tione konnten seine Begleiter den Leichnam aus den Fluten bergen. Dort steht heute die Chiesetta di San Vigilio, ein Besuch ist natürlich Pflicht.

Die Chiesetta di San Vigilio bei Tione. Foto: Julia Behl

San Vigilio wurde zurück nach Trient überführt, und später die gleichnamige Kathedrale auf seinem antiken Grab erbaut. Sie ist das Ziel der insgesamt hundert Kilometer langen Route. Bei weniger religiösen Menschen dürfte die Geschichte für ein leichtes Schmunzeln sorgen – so auch bei mir, wenn der Blick immer wieder zu den nicht allzu reißenden Fluten der Sarca schweift. Der Fluss ist stetiger Begleiter auf dem Cammino, bis er kurz vor dem Lago Toblino Richtung Süden zum Gardasee abzweigt.

Tierische Begegnungen auf dem Weg nach San Lorenzo

Aber zurück zur ersten Etappe. Es geht von Spiazzo über Tione nach Saone. Hier darf man gern ein bisschen mehr Zeit einplanen: erst sind es die beiden Esel, von denen wir uns nur schwer loseisen können, dann drei Schweine, die sich genüsslich im Schlamm suhlen.

Tierische Begegnungen am Weg kosten Zeit. Foto: Julia Behl

Unser Guide Laura interessiert sich mehr für die florale Vielfalt. Immer wieder entdeckt sie Blumen und Kräuter am Wegesrand – und zu jeder Pflanze weiß sie nicht nur den Namen, sondern hat auch Details oder eine kleine Geschichte in petto. Nachmittags kommen wir mit einem großen Schatz botanischen Wissens in Saone an, von wo uns ein Shuttle nach San Lorenzo Dorsino bringt. Das Dörfchen, in dem knapp 1500 Menschen leben, zählt zu den „Borghi più belli d’Italia“. Und der Name ist Programm: Die Schönheit der engen gepflasterten Sträßchen und alten Bauernhäuser erkennt man trotz sintflutartiger Regenfälle sofort.

Die grandiosen Blicke in die Brenta-Dolomiten und die lokalen kulinarischen Spezialitäten – im Trentino produziert jede noch so kleine Gemeinde ihre ganz eigene Delikatesse – sorgen dafür, dass man den Aufenthalt hier gut um ein paar Tage verlängern könnte. Abends werden die Schmankerl San Lorenzos, allen voran die Ciuìga, eine Wurst auf Basis von gekochtem Schweinefleisch und Rüben, im Agriturismo Il Ritorno verkostet – gemeinsam mit einem Fläschchen des lokalen Weißweins Nosiola.

Der Ciuìga wurde übrigens das Prädikat „Slow Food in Trentino Alto Adige“ verliehen. Passt gut, auch weil der Cammino nicht nur zu Ehren des Heiligen angelegt wurde, sondern sich auch dem Slow Hiking verschrieben hat. Sich Zeit lassen, Landschaft und Kultur auf sich wirken lassen, riechen, schmecken, hören, fühlen. Und das machen wir auch. Hier eine gemütliche Cappuccino-Pause am Marktplatz, dort die spektakuläre Sarca-Schlucht bewundern. Und immer wieder kurze Auszeiten an idyllischen Seen oder in Dörfern mit geschichtsträchtigen Kirchen – häufig unserem Vigilio gewidmet.

Innehalten und den Blick in die Sarca-Schlucht genießen. Foto: Julia Behl

„Apericena“ am Lago

Etwas wehmütig brechen wir morgens in San Lorenzo auf. Das Ziel, das Valle dei Laghi, genauer der Lago Toblino, motiviert. Noch ist der Himmel zwar recht wolkenverhangen, der Wetterbericht jedoch stimmt zuversichtlich. Kurz bevor schmale Waldpfade rund zweihundert Meter oberhalb der Sarca den Kreislauf auch mal richtig in Schwung bringen, schafft es die Sonne endlich durch die Wolken. Auf und ab geht es nach Ranzo. Zeit für eine Gedenkminute an der dortigen Chiesetta di San Vili nehmen wir uns, auch wenn Cappuccino und Gelato in der Rocol Bar warten.

Ab da geht’s steil bergab – über 20 Prozent Gefälle belegen die Schilder auf der kleinen Straße runter zum Lago Toblino. Die Aussicht auf den See und das auf einer Landzunge gelegene Castel spornen genauso an wie die auf das „Apericena“ in der Hosteria Toblino. Küchenchef Sebastian kredenzt vier Gänge, die zusammen mit den passenden Weinen aus der Region ein breites Lächeln ins Gesicht zaubern.

Nach einem fürstlichen Frühstück in der Unterkunft am Lago di Terlago geht’s für uns auf die letzte Etappe – von Covelo zu den Laghi di Lamar. Ein kurzes Stretching – das viele Bergab macht sich in den Oberschenkeln dann doch bemerkbar – und schon tauchen wir ein in eine Welt verschiedenster Grüntöne. Der Weg führt durch saftige Wiesen, Regen hat einen kleinen See in einer Senke hinterlassen. Die olivfarbene Oberfläche wird vom frischen Grün der Wiesen und Bäume unterbrochen, die sich im Wasser spiegeln. Ein ganz anderes Flair vermitteln kurz darauf die Lamar-Seen.

Unterhalb des Monte Paganella gelegen waren sie einst verbunden, heute existiert bedingt durch einen Erdrutsch südlich des Lago di Lamar der Lago Santo. Vor grau-weißen Felsklippen schimmert Ersterer mint- und türkisfarben – man könnte sich fast in der Karibik wähnen. Ein Test der Wassertemperatur zerstört die Illusion schnell, in kürzester Zeit verteilt sich die Kälte kribbelnd im gesamten Körper. Im Sommer ist die Gegend ein beliebtes Ausflugsziel. Wir teilen uns das kalte Wasser nur mit einer Horde Frösche in Balzlaune. Doch viel Zeit in der Idylle bleibt nicht, der Eurocity zurück nach München fährt meist pünktlich ab. Und den Ort, an dem der Cammino endet, wollen wir uns nicht entgehen lassen. Also hinein in den Trubel Trients. Wir treffen Stadtführerin Christina, die uns über den gut gefüllten Domplatz an den Ort führt, an dem vor rund 1500 Jahren Vigilios und heute unsere Reise endet: die Kathedrale San Vigilio. Das enorm hohe und lange Mittelschiff leitet Schritt und Blick zielgerichtet zum Hochaltar, in dem die Reliquien des Heiligen Vigilio aufbewahrt werden. Der perfekte Ort, die Gedanken nochmal schweifen zu lassen und die Tage auf dem Cammino zu einem würdigen Abschluss zu bringen.

Finale in der Kathedrale San Vigilio. Hier werden die Reliquien des Heiligen Vigilio aufbewahrt. Foto: Julia Behl

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