Illustration eines Wanderers, der sich an einem ausgesetzten Bergweg unwohl fühlt
Bedrängnissituation am Berg: Unwohlsein. Illustration: Marmota Maps/Lana Bragin
Gesundheit

Unwohlsein an Wegpassagen

Kennst du das?: Ich fühlte mich an einer Wegpassage unwohl oder unsicher, z. B. aufgrund eines exponierten oder schmalen Weges oder wegen Abrutsch- oder Absturzgefahr.

Faustregel

Nimm Unwohlsein ernst! Frage dich, was die Ursache dafür ist. Dann entscheide, ob du dich Wegpassagen mit solchen Herausforderungen stellen willst („Übung macht den Meister!“) oder ob du dein Unwohlsein als Signal nimmst, solche Passagen zukünftig lieber zu meiden („Gefahren sind Gefahren!“).

Geltungsbereich

Wir grenzen die Situation auf Unwohlsein ein, das keine grundsätzlichen medizinischen Ursachen außerhalb der Situation hat, sowie auf Unwohlsein auf abrutsch- oder absturzgefährdete Wegpassagen.

Ad-hoc-Maßnahmen und -Verhalten

  • Halte kurz inne und sammle dich mental an Ort und Stelle. Dazu gehört, dass du dir vor Augen führst, welche Gegebenheiten dir jetzt Sicherheit spenden können, z. B. feste Griffe und Tritte oder eine breitere Wegstelle, die schon in Kürze kommt o. ä.

  • Lenke sodann deine Aufmerksamkeit auf deine Atmung und beruhige deine Atmung. Dazu langsam (!) durch die Nase (oder den Mund) tief in den Bauch einatmen und anschließend durch den Mund mit einem hörbaren Pfffhhhh ausatmen (alternativ auch durch die Nase ausatmen). – Wiederhole dies je nach Situation drei bis acht Mal, bis du dich beruhigt hast. Siehe auch Hyperventilation.

  • Achte, während du deine Atmung beruhigst, auch auf deine gesamte im Körperspannung. Nimm sie positiv wahr, denn sie ermöglicht dir in diesem Augenblick, dass du stabil und sicher auf dem Weg verweilst. Hast du dich gesammelt, kannst du auch deine Körperspannung dosiert und bedacht reduzieren: eventuell lockerst du den Griff deiner Hände etwas, auch deinen Oberkörper kannst du vielleicht etwas entspannen.

  • Verändere deine Kopfhaltung und den Fokus deiner Augen nur langsam: schnelle Kopfbewegungen oder Fokuswechsel und damit Veränderungen des visuellen Inputs sowie des peripheren Sehens können Schwindel verstärken. Das Gleichgewichtsorgan im Ohr wertet auch die „Lagen“ der einzelnen Körperteile aus. Schnelle Bewegungen sind für das Hirn hinderlich, diese Informationen auszuwerten.

  • Mach auf dein Unwohlsein aufmerksam und bitte um Unterstützung: Es kann helfen, jemanden in unmittelbarer Nähe zu spüren. Wenn sich in der Gruppe jemand mit Seiltechnik auskennt und ihr entsprechend ausgerüstet seid, kannst du dich ggf. an der kritischen Wegpassage sichern lassen.

  • Entscheide, ob du die Stelle gehen oder vermeiden möchtest (letzteres bedeutet Umgehung oder gar Verzicht auf die weitere Tour).

  • Beruhige dich mit inneren positiven Selbstgesprächen, mit denen du Selbstvertrauen aufbaust bzw. wiedererlangst. („Ich kann das! … konzentriere dich auf deine Tritte! … Schritt für Schritt!“)

  • Begehe exponierte Passagen konzentriert und aufmerksam: mit langsamen, bewusst gesetzten Schritten können die meisten Stellen auf Wanderwegen bewältigt werden. Zerlege dir den betreffenden Wegabschnitt mental in mehrere kürzere Teil-Passagen (z. B. die kommenden fünf Meter, bis der Weg wieder breiter wird). An weniger exponierten Stellen kannst du dich wieder sammeln, deine Atmung bewusst gestalten, positive Selbstgespräche führen, dir kleine Erfolge vor Augen führen („die letzten drei Schritte waren ganz ok“) und dich dann wiederum auf die nächste Teil-Passage konzentrieren.

Theoretischer Hintergrund

Unwohlsein kommt oft dann vor, wenn die eigenen Fähigkeiten (bzw. das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten) nicht zu den Anforderungen, die das Gelände stellt, passen. Unwohlsein an ausgesetzten Wegpassagen ist Ausdruck der eigenen Besorgtheit und damit im Grunde eine ängstlich-unsichere Reaktion auf die Situation. Diese ist weder „gut“ noch „schlecht“, sondern ganz real. Sie tritt auf, da wir uns in einer Situation befinden, die gefährlich ist und die unsere Aufmerksamkeit verlangt. Blinde Sorglosigkeit wäre daher fehl am Platz.

Unwohlsein ist klar von Panik und Höhenangst abzugrenzen.

Unwohlsein bzw. (fehlendes) Wohlgefühl an einzelnen Wegpassagen wird durch folgende Faktoren bestimmt:

  • Aktuelle konditionelle und psychische Tagesverfassung. Die Situation „im Tal“ wirkt sich auf das Befinden am Berg aus, wenn auch nicht 1:1. Wenn z. B. viel Stress im beruflichen und/oder privaten Umfeld zu bewältigen ist, kann ein exponierter Weg ein zusätzlicher Stressor sein. Auch länger andauernde psychische Faktoren können eine Rolle spielen: z. B. Lebenskrisen, erhöhte Verantwortung durch Elternschaft, Pflegesituationen, Verluste.

  • Körperliche Aspekte wie Ausgeschlafen sein, Periode, beginnende Infekte. Ebenso wie Überhitzung (z. B. durch zu viel Kleidung), ein „Hungerast“ oder Unterzuckerung, zu wenig Flüssigkeitszufuhr, Probleme beim Sehen (Brille), Probleme im Halswirbelsäulenbereich etc.

  • Die Fähigkeit, Angst und Unsicherheit regulieren zu können – was sich auch als „mentale Stärke“ bezeichnen lässt. Wichtig ist: Die auftretende Angst ist eine real existierende Angst und kann realistisch nur reguliert werden, wenn Trittsicherheit vorliegt. Kann die Angst reguliert werden, gelingt es, die Aufmerksamkeit von den Gefahrenreizen (Ausgesetztheit, Wegschmalheit, „hängende Tritte“) auf das eigene Können zu lenken und damit ein gutes Bewältigen mental vorweg zu nehmen: „Ich weiß, dass ich trittsicher bin.“  „Ich kann einen solchen Weg Schritt für Schritt sicher gehen.“ „Ich habe gutes Schuhwerk.“ „Ich sammele mich und dann weiß ich, dass ich die nächsten 10 Meter auch ruhig bleiben kann.“ „Wenn es schwieriger wird, lasse ich den/die X vorgehen und gehe in seinen/ihren Tritten.“

  • Das Wissen um und das Vertrauen in die eigene Trittsicherheit: Trittsicherheit fällt nicht vom Himmel, sondern muss erlernt und kontinuierlich geübt werden.

  • Befindet man sich an einer exponierten Stelle, kann das periphere Sichtfeld das Gleichgewichtsorgan nicht vollständig mit Informationen versorgen. Dies kann zu Unwohlgefühl führen. Siehe auch Höhenangst/Höhenschwindel.

  • Unwohlsein kann auch ein Signal für Selbstüberschätzung sein: Eine angemessene und gute Selbsteinschätzung entsteht durch den kritischen Blick auf bereits absolvierte Wegpassagen und die Beantwortung der Frage: „Habe ich bisher jeden Schritt solide gemacht?“: Eine Situation bewältigt zu haben, heißt noch lange nicht, sie auch gut bewältigt zu haben! Und selbst einer Person mit grundsätzlich guter Selbsteinschätzung kann es passieren, dass sie sich an einer Passage unwohl fühlt. – Weil sie nicht einrechnet, dass sie in der aktuellen Saison im Vergleich zu früheren Wandersaisons viel weniger häufig ähnlich ausgesetzte Passagen gegangen ist.

  • Und schließlich spielt auch das Älterwerden eine Rolle und selbst für Erfahrene kann die Selbstverständlichkeit abnehmen, derartige Wegpassagen unbelastet gehen zu können.

Prävention

Unwohlsein an sich brauchst du nicht versuchen zu verhindern. Denn es ist an schwierigeren und gefährlichen Wegpassagen ein gesundes Signal deines Körpers. Verhindere stattdessen, dich in grundsätzlich überfordernde Situationen zu begeben – entweder „überfordernd“ in Bezug auf deine Angstregulierung (siehe auch „Panik“) oder in Bezug auf deine Kondition, Tagesverfassung und Trittsicherheit.

Bei der Planung der Tour sind in Bezug auf die zu erwartenden Wegpassagen daher zwei Fragen wichtig:

  • Bin ich der Tour heute gewachsen?

  • Möchte ich mich dieser Tour im Moment wirklich aussetzen?

Entwicklungsperspektive

Die meisten Menschen können sich bis zu einem gewissen Grad an ausgesetzte Stellen gewöhnen. Das heißt nicht, dass ihnen diese Stellen nichts mehr ausmachen; es meint lediglich, dass sie an diesen Stellen ihre Unsicherheit und Angst kontrollieren: Sie können sicher Schritt für Schritt gehen in dem mitlaufenden Bewusstsein, dass ein Fehler im schlimmsten Fall tödlich sein kann.

Wenn du deine Trittsicherheit verbessern möchtest, gibt es viele Balanceübungen, die richtig Spaß machen und die du fast überall üben kannst:

  • Zähne putzen auf einem Bein (schwieriger ist es mit geschlossenen Augen)

  • An unterschiedlichsten Stellen balancieren: auf Baumstämmen oder dicken Ästen am Wegesrand (Vorsicht: das Holz sollte trocken sein!); über größere und kleinere Steine am Bachbett oder Wanderweg („richtigen“ Boden betreten verboten)

  • Plätze suchen, auf denen du einbeinig gerade so stehen kannst (Kissenberg, Bachkiesel) und dir selber Dinge von einer Hand in die andere werfen oder sich zu zweit zuwerfen … der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Tiefblicke können wir im Alltag nicht wirklich üben. Also wird sich, wenn du längere Zeit nicht im exponierten Gelände unterwegs warst, dein Gesichtsfeld immer wieder auf Neue an die veränderte Perspektive gewöhnen müssen. Gib deinem Gehirn genügend Anpassungszeit und bewege dich zu Beginn deiner Bergunternehmung etwas langsamer als gewohnt an exponierten Passagen.

Mit einem gezielten Mentaltraining am Berg kannst du deine mentale Stärke, dein Selbstvertrauen und deinen Umgang mit Nervosität bzw. Unsicherheiten im exponierten Gelände bis hin zur Höhenangst trainieren: Mit Hilfe von bewusster Atmung und Körperhaltung, Aufmerksamkeitssteuerung und Selbstgesprächen sowie Visualisierungsübungen lernen Teilnehmende eines solchen Trainings, mit Unsicherheiten und Ängsten umzugehen, sie regulieren und schlussendlich sogar kontrollieren zu können. Nimmst du an einem Mentaltraining teil, wirst du Schritt für Schritt an exponiertes Gelände herangeführt, so dass eine Art Gewöhnungseffekt eintreten kann. Solch ein „Gewöhnungstraining an ausgesetzte Bergwege“ verändert nicht die Bergwegs-Gefahr selbst. Das Begehen ausgesetzter – und damit absturzgefährdeter – Passagen lehrt dich vielmehr das bewusste Entscheiden, ob du eine solche Gefahr zukünftig aufsuchen möchtest.

Übrigens: Nicht alle Menschen sind in der Lage, sich durch Training an ausgesetzte Bergwege zu gewöhnen. Souveränitätsgefühl kann nicht erzwungen werden. Schlussendlich musst du für dich selbst herausfinden, wo deine persönliche Wohlfühlgrenze aktuell liegt und wie weit du diese verschieben möchtest und kannst.

Literaturtipp: Hilfreiche Hinweise und Übungen findest du im Buch „Mental stark am Berg“ von Maya Lalive/Jan Rauch (Schweizer Alpen Club, SAC) und im Buch „Berggenuss statt Höhenangst“ von Petra Müssig.