Illustration: Bei einem Wanderer startet es Kopfkino: er sieht sich auf einem Schneehang abrutschen und in die Tiefe fallen.
Bedrängnissituation am Berg: Psychische Überforderung. Illustration: Marmota Maps/Lana Bragin
Überforderung

Psychische Überforderung

Kennst du das?: Ich erlebte eine psychische Überforderung: Bedrängnis- und Unsicherheitserleben z. B. durch Länge der Tour, auftretendes Schlechtwetter, Nebel, hereinbrechende Nacht oder Schwierigkeit der Wegstelle.

Faustregel

Wer bewusst Grenzen sucht, der findet sie. Manchmal aber sucht einen auch ungewollt die Grenze.

Ad-hoc-Maßnahmen und -Verhalten

Psychische Überforderung im Gebirge solltest du bestenfalls vermeiden. Doch wie gehst du vor, wenn die Situation dennoch eingetreten ist?

  • Versuche, „Erholungsinseln“ zu schaffen, an denen sich dein Überforderungserleben etwas zurückbilden kann: „Noch zwei Schritte, dann kann ich wieder ganz sicher stehen, „Noch 10 Meter, dann kann ich mich erholen.“ – Mit solchen Hilfssätzen gliederst du die „Gesamtbedrohung“ in kleine Teile, die du nacheinander bewältigen kannst.

  • Versuche, dich so gut wie möglich auf das zu konzentrieren, was hilft – nämlich auf den nächsten Schritt: die nächsten Meter sind das einzig (!) Wichtige. Nicht das Drumherum wie beispielsweise die tiefstehende Sonne (die dir Angst macht, weil sie dir anzeigt, dass du in die Nacht kommen könntest) oder ähnliches. Damit ist nicht gemeint, dich von der bedrohlichen Situation abzulenken. Vielmehr, dass du dich von ihr nicht „auffressen“ lässt und du sie stattdessen für diesen Moment ausblendest.

  • Erlaube dir kurze Auszeiten: z. B. einen Atemzug mit geschlossenen Augen, um für einen Moment nur deinen Körper zu spüren. (siehe auch Hyperventilation)

  • Sofern andere in deiner Nähe sind: bitte sie, dir Schutz zu geben. Je nach Situation kann das bedeuten, dass du jemanden vor dir hast, dessen/deren Spuren du folgen kannst. Oder aber du hast jemanden hinter oder unter dir – zwischen dir und der Tiefe.

  • Bitte andere auch um aktive Unterstützung: „Gib mir die Hand an dieser Stelle, „Ich will, dass wir hier das Seil auspacken.

  • Denke immer daran ausreichend zu essen und zu trinken; reguliere außerdem deine (Wohlfühl-)Körpertemperatur durch ein Mehr oder Weniger an Kleidungsschichten. Denn bereits kleine Abweichungen/Veränderungen können sich auf das Bedrohungs- und Überforderungserleben auswirken. Wenn du an einer Stelle warten musst, beschäftige dich bei Bedarf und Möglichkeit auch damit, deine Situation zu verbessern: Putze die Brille, schnüre die Schuhe nach. Damit bleibst du im Handeln und erhöhst Sicherheit und Wohlbefinden.

  • Rede dir selbst gut zu: „Die Passagen haben bisher alle geklappt, den Rest schaffe ich jetzt auch noch“, „Ich weiß, wie ich den nächsten Tritt sicher fassen kann. – Und genau das mache ich jetzt“, „Ich atme ruhig.

Wandern im Nebel – was gerade noch mystisch wirkt, kann schnell zur psychischen Herausforderung werden. Foto: AdobeStock

Theoretischer Hintergrund

Wichtig ist, zu überlegen, was zur Überforderung geführt hat. – Auch dann, wenn die Überforderung erst durch zusätzliche, unvorhergesehene Erschwernisse auf Tour entstanden ist, denn unvorhergesehene Erschwernisse kann es auch zukünftig geben.

Es macht einen Unterschied, ob die psychische Überforderung während einer Tour aufgetreten ist und vorher bereits klar war, dass man an die eigenen Grenzen herangehen würde, oder ob die Tour nach der eigenen Selbsteinschätzung psychisch nicht überfordernd hätte sein dürfen.

Prävention

Im ersten der oben dargestellten Fälle zeigt die psychische Überforderung eine persönliche Grenze an, über die du nicht einfach hinweggehen solltest.

Wenn dich die Tour entsprechend deiner Selbsteinschätzung psychisch nicht hätte überfordern dürfen, solltest du zunächst nach den die Überforderung auslösenden Aspekten suchen. Findest du sie nicht, denke auch in folgende Richtung: gesundheitliche Faktoren (leichte Infekte), mangelnde Erholungsfaktoren (wie Schlaf- oder Ernährungsdefizite), hormonelle Schwankungen (durch Zyklus oder Schilddrüsen-Fehlfunktionen). Berücksichtige darüber hinaus auch Konflikte mit anderen oder allgemeine berufliche sowie private Belastungen.

Die psychische Widerstandskraft ist nicht jeden Tag gleich und schon gar nicht in unterschiedlichen Lebensphasen, wobei auch positive Ereignisse belasten können (z. B. frische Elternschaft; beruflicher Aufstieg). Es braucht also eine einerseits hinschauende, aber auch selbstwohlwollende Haltung.

Dabei versteht sich von selbst, dass im Vorfeld einer Tour immer zwei Fragen wichtig sind: Bin ich der Tour konditionell, motorisch und psychisch gewachsen? Und: Möchte ich mich dieser Tour jetzt wirklich aussetzen?

Entwicklungsperspektive

Möchtest du entsprechende Touren auch zukünftig unternehmen, solltest du genau überlegen, wie du das Gefühl psychischer Souveränität stärken kannst:

  • Mitunter sind es nur ein oder zwei – vermeintlich – nebensächliche Aspekte, die zur Überforderung führten: z. B. hoher Zeitdruck, zu wenig Kälteschutz, Zeit- und Energieverlust durch Verlaufen. Sofern es sich hierbei um grundsätzlich kontrollierbare Größen handelt, kann man aus der gemachten Erfahrung eine Lehre ziehen. Sofern andere damit zu tun haben (z. B. bei zu spätem Aufbrechen), wird man nicht darum herumkommen, das eigene Empfinden mitzuteilen und klare Absprachen miteinander zu finden, die es ermöglichen, solche Situationen zukünftig zu vermeiden. Auch, wenn man die psychische Überforderung ausschließlich bei sich selbst verortet, ist es hilfreich, diese anzusprechen. Denn die Probleme zu verstecken, kostet nur weitere Energie und verringert das eigene Wohlbefinden in der Gruppe.

  • Findet man allerdings Aspekte wie oben erwähnt nicht, wird man zum Schluss kommen, dass bei einer nächsten ähnlichen Tour dasselbe passieren könnte. Dann ist es am besten, „einen Schritt zurückzugehen“ und sich mit Touren unterhalb der aktuellen Grenze noch vertrauter zu machen … um dann einen neuen Schritt zu wagen. Selbstredend: auch die Entscheidung, die zuletzt gemachte Erfahrung als „limit“ für zukünftige Tourenentscheidungen zu nehmen, ist erlaubt!

  • Auch eine Verbesserung der Kondition kann psychische Überforderung reduzieren.

  • Zudem kann ein Mentaltraining am Berg dabei helfen, souveräner mit solchen Situationen umzugehen.