Tamar Lunger sitzt am Fuß des K2 auf einem Fellsblock
2021 war Tamara Lunger im Karakorum. Ihr Ziel: die Winterbesteigung des K2. Die Expedition wird zur Katastrophe, fünf Bergsteiger, mit denen Tamara unterwegs war, sterben. Foto: Juan Pablo Mohr
Maltes Gespräche

Tamara Lunger über Selbsterkenntnis

Die Südtirolerin Tamara Lunger zählt zu den weltweit stärksten Höhenbergsteigerinnen. Im Winter 2021 erlebte sie am K2 – auf dessen Gipfel sie schon im Sommer 2014 stand – die Tragödie, dass gleich zwei ihrer Partner tödlich verunglückten.

Malte Roeper: Du warst wiederholt unterwegs mit Simone Moro, dem führenden und erfolgreichsten Winter-Höhenbergsteiger überhaupt. Du hast mal gesagt, auf deinen Expeditionen mit Simone Moro hatte er den weiblichen Part und du den männlichen - wie stellt man sich das vor?

Tamara Lunger: Auf der Expedition im Winter 2019/20 am Gasherbrum habe ich mich ziemlich aggressiv erlebt: "Wir müssen jetzt das machen, wir müssen jetzt dies tun" und so weiter. Danach bin ich zu einer spirituellen Frau gegangen, sie hat mich angesehen und gesagt: "Du bist ein Mann." Und ich habe erwidert, ich wüsste, dass ich mit dem Thema so meine Probleme habe. Und sie darauf: "Ich gebe dir noch ein Jahr zu leben, wenn du nicht imstande bist, deine weibliche Energie anzunehmen." Das hat mich zum Nachdenken gebracht - und ich habe wirklich gesehen, dass bei Simone das Annehmen, die Ruhe, die "weibliche" Intuition durchkam, während ich vom Charakter her eher der männliche Part gewesen bin.

Ein paar Äußerungen von dir klangen tatsächlich "typisch" männlich: 2014 bist du zum K2 gefahren wegen Liebeskummer - der Klassiker: wenn Männer Kummer mit einer Frau haben, dann machen sie irgendwie sowas. Und du hast gesagt, ich bin bereit, für die Berge zu sterben.

Das Erste stimmt. 2014 am K2 habe ich mir gedacht, ich brauche jetzt irgendetwas, damit ich das ein bisschen beiseite legen kann. Und das Zweite klingt sehr extrem, aber ich weiß ja, du kannst bei jeder Expedition nicht mehr zurückkommen. Doch das hält mich nicht auf, auch nicht im Winter. Das ist so viel schwieriger als eine normale Expedition: Du bist in einem kleinen Team, musst hundert Prozent Verantwortung übernehmen. Und wenn du nicht auf der Höhe bist, das alles zu stemmen, dann schaut es schlecht aus. Aber das hat mir ja auch immer so getaugt - so weg von der Masse und in diese kalte Welt. Nicht, weil ich die Kälte so liebe, sondern weil ich dann für jede Entscheidung die volle Verantwortung übernehme. Und das gibt mir eben die Genugtuung und die Befriedigung.

Tamara Lunger in ihrem Element: auf Expedition. Foto: Tamara Lunger

Also immer los, los los!

Genau. Und dann kam der Lockdown, da habe ich sehr viel an mir gearbeitet. Das war sehr schmerzhaft, ich habe eine Persönlichkeitsfortbildung gemacht, täglich mehrere Stunden, Meditationen und so weiter und ich habe echt viel daraus mitgenommen. Ich glaube, ich habe mich ziemlich verändert in dieser Zeit. Deswegen ist das für mich auch eine goldene Zeit gewesen, vielleicht die beste Zeit meines Lebens.

Was ist beim Nachdenken Neues herausgekommen?

Dass ich mich früher manchmal gefühlt habe, als wäre ich mein eigener Sklave. Der Kopf will und der Körper muss das dann ausführen. Das war oft sehr schwierig.

Mit Achttausendern im Sommer bist du ziemlich vertraut, aber im Winter, das ist schon noch mal eine andere Nummer?

Ja sicher. Am Gasherbrum im Winter 2019/20 hatten wir einen Fotografen und einen Kameramann dabei und meinten, „da könntet ihr ja ein bisschen mitgehen“. Der Fotograf hat dann schnell gesagt: „Nein, das ist zu viel für mich“ und ist umgedreht. Der Kameramann kam gar nicht erst mit auf den Gletscher. Beide sind Bergsteiger und wirklich viel unterwegs. Das hat mir die Augen geöffnet. Da musst du dir so einen energetischen Zaun schaffen, damit du dich nicht mitreißen lässt, etwa wenn alle das Gipfelfieber kriegen. Genau das habe ich am K2 geschafft.

Meinst du den Gipfelerfolg 2014 oder die furchtbare Sache beim Versuch der Winterbesteigung 2021?

Ich rede vom Winter am K2. Da gab es Ende Januar einen Tag im Basislager, wo jeder verrückt geworden ist. Die Agentur hat gesagt, am 8. Februar starten wir wieder Richtung Zivilisation, obwohl die Expedition bis zum 16. hätte dauern sollen. Ich glaube, als die Nepalesen ihren Gipfel hatten, sahen die in allem anderen nur mehr eine Belastung [am 16. Januar hatte eine Gruppe nepalesischer Bergsteiger den Gipfel des K2 erreicht, Nirmal Purja gelang dies ohne Flaschensauerstoff]. Alle redeten wie verrückt über Wetter und Taktik, und ich bin dagesessen und hab mir gedacht: Nein, ich steige da nicht mit ein. Wir haben mit Sergi Mingote schon einen Toten, ich folge jetzt wirklich zu hundert Prozent nur meiner Intuition.

Ich bin dann mit Juan Pablo Mohr wieder an den Berg gegangen, habe aber gemerkt, dass ich nicht wirklich in Form bin. Das hat mich letztlich gerettet. Im Lager 3 hat sich Juan Pablo vorbereitet und ist um zwölf Uhr nachts raus Richtung Gipfel. Ich habe die Lichter der Stirnlampen gesehen und mir gesagt: Bin ich froh, dass ich da nicht dabei bin! Ich glaube, dass die ganze Gruppendynamik schlussendlich zu dem Unglück geführt hat.

Das Lager 3 ist auf 7200 Metern und ich war die Einzige, die gesagt hat, wir müssen ein Lager 4 machen. Zumindest für die, die ohne Sauerstoff gehen. Weil ich von 2014 noch wusste, wie anstrengend das gewesen ist.

Informationen zum Hintergrund

Außer Juan Pablo Mohr waren auch Muhammad Ali Sadpara und John Snorri am 5. Februar Richtung Gipfel aufgebrochen, galten dann als vermisst und wurden für tot erklärt; ihre Leichen fand man im Sommer 2021.

Das nepalesische Team ist aber direkt von Lager 3 aus zum Gipfel gestartet.

Und genau das hat bei den anderen ausgelöst: Geht also doch, von Lager 3 aus! Juan Pablo hat zwar gesagt: „Wenn du meinst, machen wir ein Lager 4“. Doch weil ich dann entschieden hatte, den Gipfel nicht zu probieren, ist er halt auch von Lager 3 gestartet.

Du hast von einer Begegnung mit Nirmal Purja erzählt, einem der erfolgreichen nepalesischen Bergsteiger am K2. Laut eigenen Angaben war er ohne Flaschensauerstoff oben, du hast dich nicht gescheut, die leisen Zweifel daran öffentlich anzudeuten. Das scheint deine Art zu denken und mit Leuten umzugehen zu sein: Du bist extrem ehrlich.

Ohne Rücksicht auf Verluste.

Auch gegenüber deinem rumänischen Seilpartner, mit dem du nicht klargekommen bist. Da würden auch viele sagen, in der Öffentlichkeit nenne ich das mal "Okay, es lief halt nicht rund". Die Leute, denen du nahe bist, können sich auf dich verlassen, aber vor deiner Ehrlichkeit auch jederzeit Angst haben?

Groß diplomatisch sein, das ist etwas, was ich bei anderen Menschen auch überhaupt nicht packe. Also immer zum eigenen Vorteil reden, ich mag das einfach nicht. Ich bin ja keine Schauspielerin. Und deswegen wurde ich auch oft kritisiert. Wenn du etwas mal nicht aussprichst, heißt das ja eigentlich nicht, dass du nicht ehrlich bist, aber für mich ist das schon fast nicht ehrlich.

Ich bin schon von klein auf so gewesen, dass ich immer alles auf dem schwierigen Weg erreichen wollte. So war es schon beim Skitourengehen. Ich bin mit meinem Vater aufs Schwarzhorn gegangen, hier im Eggental. Ich bin noch nie auf Ski gestanden und trotzdem nicht in seiner Spur gegangen, sondern habe für mich neu gespurt: Ich will es eben schwierig haben. Das ist eine Charaktereigenschaft, die mich oft an meine Grenzen gebracht hat.

Dieser innere Druck, immer Vollgas geben zu müssen, woher kommt der?

Mit dem bin ich einfach geboren. Als Kind, da bin ich Radrunden gefahren und habe immer die Zeit aufgeschrieben: Ich muss noch schneller sein! Immer will ich mehr, mehr lernen und meinen Horizont erweitern, und das war eigentlich so, bis der K2 mir diese Riesenwatschen gegeben hat. Ich will nicht mit der Masse bergsteigen? Okay, dann weiche ich auf den Winter aus. Scheißkälte, aber das ist mein Traum, ich will das so machen, deswegen muss ich das so akzeptieren und jetzt darf ich mich nicht beschweren. Dabei bin ich aber auch so richtig aufgegangen, und das Alleinsein in den großen Bergen, das ist ein Gefühl, da fühlt man sich wie eine Königin. Da ist eine Verbindung zu Gott, ich bin ja sehr gläubig.

Wie bist du aufgewachsen? Wie war es zu Hause? Hast du Geschwister?

Ja, zwei Schwestern, beide jünger. In einem 500-Einwohner-Dorf, da gibt es nichts, kein Geschäft, kein Postamt, gar nichts. Wir sind wirklich in einem Paradies aufgewachsen, immer draußen und in den Wäldern herumgestreunt. Und wir haben zwanzig Jahre eine Hütte gehabt, wir sind ganz anders aufgewachsen als andere Jugendliche. Ich war zwölf, als wir die Hütte übernommen haben und wir sind immer den ganzen Sommer auf der Alm gewesen.

Kein Fernseher und so Zeug? 

Kein Fernseher! Und wenn wir irgendwann dann mal ausgehen wollten, dann mussten wir zu Fuß runtergehen. Es gab Sommerfeste, da sind wir dann zu Fuß eineinhalb Stunden runter, haben getanzt und nachts um zwei oder drei haben wir dann alle wieder zusammengetrommelt für den Aufstieg. Manchmal sind wir genau um sechs Uhr angekommen, wo wir wieder angefangen haben zu arbeiten. Und das ist für mich so eine schöne Erinnerung, weil ich allgemein ein Fan von alten Zeiten bin. Und ich bin ein Fan von alten Menschen, die dir so viel erzählen und so viel Emotion vermitteln können. Deswegen habe ich das sehr geschätzt, dass wir so aufwachsen durften wie vor fünfzig oder siebzig Jahren.

Abseits von Schnee und Eis durchquert Tamara Lunger hier die Mongolei. Foto: Archiv Tamara Lunger

Zurück zum K2: Wie bist du mit deinem ersten Seilpartner Alex Gavan darauf gekommen, zusammen den K2 im Winter zu versuchen? Und warum hat es nicht harmoniert?

Kennengelernt haben wir uns 2014, er war am Broad Peak und ich am K2, die beiden Basislager liegen direkt nebeneinander. Wir haben uns total gut verstanden. Umso schwerer war das dann während der Expedition 2021. Bei den Rotationen, also den Auf- und Abstiegen zwischen den Lagern zur Akklimatisation. Du musst ja schon mit deiner körperlichen Kraft haushalten und dann ist da noch die mentale Komponente. Ich war am ersten Tag im Lager 1, Alex ist irgendwann in der Nacht gekommen. Wir hatten alles schon für ihn aufgestellt, Zelt, Matratze, Schnee geholt usw. Am nächsten Tag dasselbe. Ich bin wieder meinen Rhythmus gegangen, habe oben in Lager 2 das Zelt aufgestellt und gewartet und gewartet. Ich habe ihm gesagt, ich kann das so nicht, weil ich meine Energie zum Bergsteigen brauche.

Es geht nur gleich stark, oder?

Wenn jemand mal einen Hänger hat, baut man ihn halt wieder auf; aber so ist das einfach sehr schwierig. Wir haben dann schrecklich gestritten. Und beim Abstieg ins Basislager passierte der Unfall von Sergi.

Der ärgste Albtraum eines Expeditionsablaufs, den man sich nur vorstellen kann: Du brichst mit einem Partner auf, mit dem du dich schlecht verstehst, hast dann das Glück, zwei neue Freunde zu finden, mit denen du dich gut verstehst – und die dann beide sterben.

Nach dem Streit mit Alex im Lager 2 bin ich zu Sergi und Juan Pablo, der gesagt hat: „Wir akklimatisieren fertig und dann gehen wir zusammen, du, Sergi und ich.“ Ich habe mich bei ihnen gefühlt, als würde ich sie schon ewig kennen, da war so eine Gaudi und so eine Leichtigkeit. Und beim Abstieg ist es dann passiert: Sergi hat sich überschlagen und lag fast vor unseren Füßen. Nicht mehr ansprechbar und komplett zerlegt. Du weißt, eigentlich kannst du nichts machen, einfach da sein bei ihm und ein bisschen was Nettes sagen. Nach einer Stunde hat Sergi aufgehört zu atmen. Und dann sind wir runter ins Basislager und für mich war klar: Ich kann da jetzt nicht abhauen. Juan Pablo hat gefragt, was ich denke? Und nachher haben wir gesagt, wir probieren es mit dem Aufstieg.

Tamara Lunger 2018 unterwegs in Sibirien. Foto: Tamara Lunger
Starkes Gefährt: Tamara Lunger auf Expedition durch Sibirien. Foto: Tamara Lunger

Diese furchtbare Erfahrung am K2, so etwas verändert einen Menschen. Mit dem Bergsteigen weitermachen wirst du sicher, aber in welcher Form?

Beim Gedanken ans Höhenbergsteigen bin ich hin- und hergerissen. Ich kann mir schon vorstellen zurückzukehren, aber erst einmal engagiere ich mich in Afrika in einem sozialen Projekt gegen die Beschneidung von Frauen und gehe auf den Kilimanjaro [Zeitpunkt des Interviews Juli 2022]. Achttausender im Winter werde ich, glaube ich, nicht mehr gehen. Ich kann es nicht sicher sagen, aber ich glaube eher nicht.

In Zeiten, wo du nicht Bergsteigen gehen konntest, bist du früher in depressionsähnliche Zustände gerutscht. Wie ist das heute?

Ich wollte immer weiter, immer mehr und habe meinen Körper eher als Feind gesehen, weil er nicht das ausgeführt hat, was ich wollte. Und wenn die Ärzte gesagt haben, jetzt musst du ein paar Monate pausieren, du hast überall Entzündungen, das war für mich immer das Schlimmste. Das letzte halbe Jahr hatte ich wieder was am Kreuz und das erste Mal in meinem Leben habe ich das mit Freude angenommen. Und mir gesagt: Das ist jetzt so. Ich bin nicht nur Leistung, ich bin ein Mensch, ich muss auf mich schauen. Das ist schön zu sehen, wie man sich entwickelt und tatsächlich etwas weiser wird.

- Ende -

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