Wanderin auf Blockfeld
Bergsteigerisch ist der Mont Bégo ein eher harmloses Ziel: Ein Wanderweg führt zum Gipfel. Foto: Stefan Neuhauser
Drei „heilige Berge“ der Südalpen

Dreisteinigkeit

Berge haben oft eine mythische Bedeutung für die Menschen, die dort wohnen. Das gilt auch für Mont Bégo, Monte Viso und Rocciamelone in den südlichen Alpen. Stefan Neuhauser hat sie besucht und nach kulturellen Spuren geforscht.

Der heute vorherrschende alpinistisch-touristische Ansatz ist auf Superlative ausgerichtet – so konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit beim Blick auf die Südwestalpen auf die höchsten und mächtigsten Massive um Mont Blanc und Monte Rosa. Doch das war nicht immer so. Zu Zeiten, als man die absolute Höhe eines Berges noch nicht messen konnte, war es wichtiger, wie ein Berg optisch wirkte und wie er in seiner Umgebung stand. Daraus erwuchs manchem Gipfel eine mythische Bedeutung. Denn Form, Höhe und Sichtbarkeit eines Berges wecken Gefühle beim Betrachten, die um Macht, Beständigkeit, Präsenz, Ehrfurcht und Ähnliches kreisen. Neben diesen visuellen und emotionalen Aspekten machte unter anderem auch das Wasser Berge bedeutsam. Es galt als Lebensspender, sein Ursprung war heilig, denn ohne Wasser ist kein Leben möglich. Während wir es heute als selbstverständlich ansehen, genug davon zu haben, war das nicht immer so – und doch ist Wasser ein essenzieller Faktor für das Leben und Überleben der Menschen: für Ernährung und Landwirtschaft, Energiegewinnung und Produktion.

Drei Berge mit alter spiritueller Bedeutung liegen zwischen Mont Blanc und dem Mittelmeer, zwischen Frankreich und Italien – nennen wir die Region „Südalpen“.

Natürlich gibt es weitere mythische oder „heilige“ Berge; diese drei sind für mich jedoch besonders auffällig. Der südlichste von ihnen liegt nur wenige Kilometer vom Mittelmeer in den Alpes Maritimes: der Mont Bégo (2872 m). Er lässt sich zwar als einzelner Gipfel aus der Poebene oder der Provence nicht erkennen, aber an klaren Tagen im Herbst und Winter sieht man ihn von Korsika aus. Seit Jahrtausenden hatten ihn die seefahrenden Völker des Mittelmeerraumes schon von Weitem im Blick; in seinem Massiv huldigten die Menschen einem lebenspendenden Gott. Etwas nördlich davon, in den Cottischen Alpen, sticht die Pyramide des Monte Viso (3841 m) in den Himmel und ist aus weiten Teilen des Piemont sichtbar. Piemont bedeutet: am Fuß der Berge; am Fuß des Monte Viso entspringt der Po. Und aus einem Steinbruch an seinen Hängen stammen Kultgegenstände aus vorchristlicher Zeit, die über ganz Europa verteilt sind und von großer Bedeutung waren. Der nördlichste Gipfel meiner Wahl, der 3538 Meter hohe Rocciamelone, steht in den Grajischen Alpen. Ab dem Mittelalter hatte er eine besondere Bedeutung für katholische Gläubige. Alte Quellen belegen jedoch seine mythische Bedeutung schon in vorchristlicher Zeit.

Auf den Spuren des Donnergottes

Mont Bégo (2872m)

Mit etwas Glück sieht man vom Gipfel das Mittelmeer – ziemlich sicher findet man Spuren uralter Kulturen.

Mythische Berge? Gibt es viele in den Südalpen. Geheimnisvoll wirkt auch der Pic Caramantran (3021 m) südlich des Monte Viso. Foto: Stefan Neuhauser

Um 18 Uhr abends starten wir am Lac de Mesches; Zelt, Schlafsack und Verpflegung für ein paar Tage im Rucksack. Der grob gepflasterte Militärweg ist an einigen Stellen von Goldregen komplett zugewuchert. Beim Loslaufen ist es noch sonnig und das Abendlicht taucht die Landschaft in angenehm mildes Licht; am Pas de Colle Rousse wabern die Mittelmeernebel von Ventimiglia das Tal hinauf und beginnen die Landschaft in Watte zu tauchen. Willkommen im Tal der Wunder, dem Vallée des Merveilles! Im letzten Tageslicht bauen wir unser Zelt am Lac Jugale auf, springen im gespenstischen Zwielicht verschwitzt ins eiskalte Wasser, dann kriechen wir ins Zelt. Carla, eine ehemalige Klassenkameradin, heute Kunstlehrerin am Genfer See, ist meine kunstkompetente Begleiterin ins Tal der Wunder. Wir sind gekommen, um zu verstehen, was die Menschen vor 4000 Jahren veranlasst hat, hier oben Felszeichnungen und Gravuren zu hinterlassen. Sie verteilen sich über ein weites Gelände im Umfeld des Mont Bégo.

Vergleiche mit anderen Kultplätzen und Auswertungen der Gravuren deuten auf einen Kult zu Ehren des Donnergottes hin. Was liegt also näher, als in einer schwülen Juninacht, in der Gewitter angesagt sind, hier hinaufzusteigen und diesen Platz auf sich wirken zu lassen?

Feuchtwarme Mittelmeerluft steigt hier auf, kühlt sich ab und trifft oft auf kältere Luft aus dem Norden. Dadurch entstehen im Sommer heftige Gewitter mit starken Niederschlägen – die für die trockenen Böden der Poebene Fruchtbarkeit, Wachstum und Leben bedeuten. Bei uns bleiben die Gewitter aus, aber Wolken, Nebel und später eine sternenklare Nacht verleihen unserem Platz gegenüber dem Mont Bégo eine wilde, magische und gleichzeitig friedvolle Atmosphäre. In dieser Stimmung machen wir uns auf den Weg zu den Felszeichnungen; sie sind in gletschergeschliffenen, rötlich-braunen Schiefer gemeißelt oder geritzt. Die glatte Oberfläche des weichen Steins ist laut Carla wie gemacht dafür. Wir sehen quadratische, ovale und kreisrunde Körper von Stieren und Rindern mit unterschiedlich langen Hörnern, meistens ist nur der Kopf dargestellt. Häufig finden sich weitere Symbole, etwa Pflüge, eingesäte Erde, befruchtender Regen, Gewitter und Kraft symbolisierende Waffen, zum Beispiel Blitze in der Hand abgebildeter Personen. Verschiedene Forschende haben die Felsbilder kartiert und katalogisiert und waren sich einig, dass sie kein lokales Phänomen sind, sondern ein im Mittelmeerraum verbreitetes Fruchtbarkeitssymbol. Der Ursprung solcher Rinderdarstellungen liegt vermutlich im Orient und dem angrenzenden anatolischen Raum. Das ligurische Küstenland mit dem Mont Bégo war anscheinend vor langer Zeit ein zentrales Heiligtum. Leider sind keine archäologischen Funde um den Mont Bégo nachgewiesen, was die Zuordnung der Felsbilder zu Kulturen oder Völkern schwierig macht. Sicher ist, dass die Niederschläge und die zahlreichen Bäche und Flüsse immer schon die Fruchtbarkeit des Landes gefördert haben – auch in der Jungsteinzeit und Bronzezeit, als diese Kunstwerke entstanden. Die Menschen kamen vor allem, um ihrem Gott dafür zu danken. Noch im Dunkeln brechen wir ohne Frühstück auf, um den Sonnenaufgang vom hundert Meter höheren Mont du Bec Roux zu erleben, mit Aussicht auf den Mont Bégo und die Ligurischen Alpen weiter östlich. Ein dichtes Wolkenmeer verdeckt die Täler. Ganz vereinzelt spitzen ein paar Gipfel durch. Die Bergwelt der Alpes Maritimes schimmert bläulich-grünlich, rosa und orange; mit der aufgehenden Sonne verblasst sie in milchig gelbem Licht. Wie oft habe ich solche Momente bei Führungen in den Westalpen erlebt, aber als Bergführer kreisen die Gedanken um Gäste, Material und Sicherheit. Hier und heute ist alles anders, wir leben den Moment. Unweigerlich kommen archaische Gedanken zu Geburt und lebensspendender Urkraft auf. Beim Abstieg tauchen wir in den Nebel ein, im Zwielicht erschrecken wir ein äsendes Gamsrudel, das mit großen Sprüngen im Nebel verschwindet. Zurück am Zelt legen wir uns nochmals schlafen und träumen unseren Traum des Sonnenaufgangs hier in der Nebelsuppe weiter. Als wir später beim Frühstück sitzen, erscheint binnen Minuten eine große Schafherde. Die großen weißen Hunde, die zum Schutz der Herde vor Wölfen das ganze Jahr mit ihnen verbringen, machen sich schnüffelnd an unseren Vorräten zu schaffen. Es ist das Wochenende des Saint Jean, an dem in den Südalpen Alpauftrieb ist. Der Lac Jugale, unser Zeltplatz, ist seit Jahrhunderten Etappenziel der Herden. Der Grenzverlauf hat sich oft geändert, die Tradition der Transhumanz ist über Jahrtausende geblieben. Hier am Lac Jugale finden die Tiere Wasser und Fläche zum Ausruhen und Grasen, bevor sie über den steilen Abstieg vom Pas de Colle Rousse weiterziehen. Zweimal im Jahr kommen die Herden hier durch, genau diesen Tag haben wir zufällig erwischt. Deutlich spüren wir den banalen und doch so grundlegenden Zusammenhang zwischen Wasser, Erde und Vegetation, die die Herden ernähren, und der menschlichen Existenz.

König aus Stein

Monte Viso (3841m)

Von der Quelle des Po auf den Herrscher der Poebene – der Monte Viso ist eine Reise wert.

Im steilen Fels am Monte Viso ist Trittsicherheit gefragt. Foto: Stefan Neuhauser

Wegen seiner Höhe von fast 4000 Metern und seiner Pyramiden-Form, unverwechselbar zu sehen von vielen Gipfeln der Westalpen und aus der Poebene, nannte man ihn König aus Stein. Die Höhendifferenz vom Gipfel bis in die Poebene beträgt 3500 Meter, fast so viel wie vom Mont Blanc nach Chamonix. Oft wird der Monte Viso als leichter Berg bezeichnet, aber er überragt alle umliegenden Gipfel um 500 Höhenmeter. Schlägt das Wetter um, schneit es schnell, und um den exponierten Obelisken peitscht der Sturm. Eine echte Hoch-Tour also, im Gegensatz zu den mit Wegen erschlossenen Mont Bégo und Rocciamelone: Am 600 Meter hohen Gipfelaufbau sind Stellen bis zum dritten Grad zu klettern, Sicherungspunkte sind Mangelware, oft gibt es Schnee und Eis. Wir haben uns für den Südaufstieg entschieden. Zwei „Normalwege“ führen auf den Monte Viso, am Gipfelaufbau auf gleicher Route. Der landschaftlich spektakuläre Zugang von der Poquelle am Pian del Re über die Quintino-Sella-Hütte leidet oft an deren Überfüllung. Unsere Variante von Castello durchs Vallone di Vallanta und über das Biwak Boarelli alle Forciolline verspricht romantische Einsamkeit. Schon der Zustieg zum Biwak bringt Spaß, fordert aber Gleichgewicht, Gefühl für Reibung und für die richtigen Steine und Blöcke, die dem Körpergewicht plus Rucksack standhalten. Hat man sich getäuscht und rutscht zurück, wird man gleich mit einem Höhenverlust bestraft. Fast eine Tour für sich und gleichzeitig ein Vorgeschmack auf den nächsten Tag, der auch überwiegend durch Blockgelände verläuft. Am großzügigen Biwakhüttchen am Forciolline-See angekommen, sind wir völlig alleine. Bis auf ein paar Flechten und vergilbte Gräser gibt es hier oben keine Vegetation. Der thermische Wind schlägt kleine Wellen auf dem See. Das Wasser ist klar und äußerst kalt. Die Zivilisation ist weit weg, kein Ton von außen dringt hier ein, nur das leise Plätschern der Wellen ist zu hören.

Wir fühlen uns völlig isoliert vom Rest der Welt in diesem Kessel am Fuße des „Königs aus Stein“.

Rundum steigen rotbraune Felswände zum Himmel auf, Tausende Felsblöcke in allen Größen liegen herum. Es gibt wenige Plätze wie diesen in den Alpen – als wolle uns der Monte Viso mit einer Überdosis Felsenergie betören, damit wir ihn in Frieden lassen. Im Laufe des Abends kommen weitere Menschen herauf. Das Aufblitzen ihrer Stirnlampen lässt uns in die Realität zurückkehren. Die Biwakschachtel füllt sich mit der Energie von jungen motivierten Bergsteigenden. Die Nacht wird unruhig, da die ersten der piemontesischen Anwärter lange rumgruschteln und um vier Uhr schon wieder aufstehen. Wir spüren ihren Respekt vor dem Berg. Der Monte Viso bleibt auch heute noch eine beeindruckende Unternehmung. Weil wir keine Lust haben, mit den Stirnlampen durch das Blockgelände zu stolpern, starten wir erst kurz vor Tagesanbruch; die aufgehende Sonne taucht unseren Bergkessel in goldenes Licht. Bald haben wir unsere Mitschläfer im Biwak eingeholt, die in der Dunkelheit und mit ihren Seilmanövern einige Zeit verloren haben. Mit einem Gruß auf den Lippen kraxeln wir an ihnen vorbei, sie grüßen zurück, die Stimmung ist entspannt, wie so oft in den südlichen Alpen. Wer hier seilfrei sicher unterwegs ist, spart viel Zeit. Am Gipfel muss ich als Bergführer schlucken: Eine Gruppe italienischer Alpini-Soldaten klettert angeseilt wie für einen Gletscher durch die Felsen – eine Sicherungsmethode, die nicht für dieses Gelände geeignet ist. Doch irgendwann sind wir allein und genießen den Weitblick auf das Wolkenmeer über der Poebene, fast wie aus dem Helikopter, kein anderer Gipfel stört den Rundblick: Monte Agentera, Provence, Dauphiné, Mont Blanc, Matterhorn, Monte Rosa und Ortler sind zu sehen … unglaublich schön! Wir blicken hinunter zum Fuß des Monte Viso. Dort unten wurde in der Steinzeit Jadeit abgebaut, um daraus Äxte für Kulthandlungen herzustellen. Deren Verbreitung in ganz Europa – nach Nordfrankreich in die Bretagne, nach Großbritannien und Irland, Belgien, Mittel- und Norddeutschland und sogar Dänemark – entfachte eine heftige wissenschaftliche Diskussion. Man sah die europäischen Jadeit-Beile als Beleg für die Einwanderung eines Volkes aus Südostasien, von wo Vorkommen dieses Gesteins bekannt waren. Doch in den 1990er Jahren konnten der französische Archäologe Pierre Pétrequin und seine Frau Anne-Marie den Jadeitsteinbruch am Monte Viso wiederentdecken. Sie fanden die Spuren neolithischer Menschen, die das Gestein durch Feuersetzen abbauten und in die Talregionen transportierten, wo es geschliffen und weiterverarbeitet wurde. Die Schürf-Expeditionen waren sehr beschwerlich, und nicht jeder durfte den „heiligen Steinbruch“ besuchen, wahrscheinlich wurde er sogar geheim gehalten. Für den Gipfel des Monte Viso gilt das nicht – aber leicht macht er den Menschen seine Besteigung auch nicht gerade.

Pilgerberg der Katholiken

Rocciamelone (3538m)

1336 wird als Geburtsstunde des Alpinismus betrachtet; nur zwanzig Jahre später entstand am Rocciamelone ein Madonnenkult.

Durch eine wilde Landschaft führt der teils gesicherte Bergweg zur Madonna vom Rocciamelone. Foto: Stefan Neuhauser

Im Frühjahr und Winter sieht man die weiße Pyramide des Rocciamelone schon von Weitem, wenn man von Turin ins Susatal kommt. Dieser Anblick lässt es nur allzu verständlich erscheinen, dass er einmal als höchster Berg des Piemonts galt. Im Juli 2000, einem schneereichen Sommer, überschritt ich den Gipfel mit Steigeisen und Pickel von Süden nach Norden, auf meterhohem hartgefrorenem Firn. Im August 2020 war der gesamte Weg schneefrei. Innerhalb weniger Wochen wechselt der Berg im Sommer sein Erscheinungsbild von der weißen zur schwarzbraunen Pyramide, vom Hochtourengipfel zum höchstgelegenen Wallfahrtsort der Alpen, der mit Turnschuhen und kurzer Hose erreichbar ist. Die Gletscher- und hochsommerliche Schneefreiheit vieler Gipfel in den französischen und piemontesischen Alpen ist sicher ein Grund, dass es hier so viele sehr hoch gelegene Kultstätten gibt.

Der Sage nach brachte Rotarius von Asti, während der Kreuzzüge aus türkischer Sklaverei entkommen, bei der Erstbesteigung 1358 ein Heiligenbild von Maria auf den Rocciamelone und deponierte es dort.

Können wir uns heute noch vorstellen, unter welchen Mühen er die damals noch weglosen 3000 Höhenmeter zum Gipfel zurücklegte? Der Kult der Mutter Gottes vom Rocciamelone war somit gelegt. Doch der Anfang liegt sicher schon früher: „Auf den schon für Römer und die Völkerschaften vor ihnen Heiligen Berg, den Rocciamelone, pilgern jährlich viele Tausend Menschen, besonders zu Maria Schnee, am 5. August. Kinder und Jugendliche halten der Madonna die Hand und stellen sich so in ihren Schutz. Die Alpen sind reich an archaischen Sagen, Mythen, altertümlichen Traditionen und vorchristlichen Kultstätten, die später von christlichen Heiligtümern überbaut wurden. Wir wissen nur noch kaum etwas davon.“ Das schreibt der Tiroler Volkskundler Hans Haid in seinem Buch „Mythos und Kult in den Alpen“ – kein Wunder: „Seit den ältesten Zeiten brachten die Menschen den höchsten Bergen, vor allem den vergletscherten Bergriesen, den allergrößten Respekt entgegen.“ Der Genfer Wissenschaftler Horace Bénédict de Saussure bestieg 1787 einen Nachbargipfel des Rocciamelone. Kurz darauf führte er „begleitet von einem Bedienten und 18 Führern“ die erste wissenschaftliche Besteigung des Mont Blanc durch. Seine barometrischen Messungen auf dem Gipfel ergaben, dass der Mont Blanc der höchste Gipfel Europas sei. Saussure berichtete in seinem Buch „Voyages dans les Alpes“, dass auf dem Rocciamelone eine Kapelle mit der Mutter Gottes stehe und im August jährlich eine Prozession von Susa aus zum Gipfel stattgefunden habe. Der Weg sei jedoch gefährlich gewesen und fast jedes Jahr seien dabei Menschen abgestürzt. Wahrscheinlich deshalb wurde 1798 bei der jetzigen Schutzhütte Cà d’Asti (2834 m) etwa zwei Stunden unter dem Gipfel eine Rundkapelle erbaut, wohin man das Bild jeweils am 5. August hinauftrug statt ganz auf den Gipfel. 1838 brachten die Söhne des Königs Albert von Sardinien-Piemont das Bild wieder zur Gipfelkapelle hinauf. Einer der beiden, Vittorio Emanuele II, wurde später erster König des geeinten Italiens; eine Büste am Gipfel erinnert an den königlichen Besuch. Bekannt wurde der König auch durch seine Gebirgsliebe und Initiativen wie den Erhalt der Steinböcke im späteren Nationalpark Gran Paradiso. 1895 wurde im oberen steilen Bereich des Rocciamelone ein neuer Weg angelegt, was es wesentlich leichter und sicherer machte, das Madonnenbild während der Prozession auf den Gipfel zu bringen. 1899 wurde dort eine Marienstatue aufgestellt, für die 130.000 Kinder jeweils 10 Centesimi gespendet hatten und die von 60 Alpini-Soldaten in acht Teilen hinaufgetragen wurde; die Inschrift „Bimbi d‘Italia a Maria“ zeugt immer noch von dieser Aktion. Dank dem Weg von 1895 und der Südausrichtung ist die Besteigung des Rocciamelone über die endlosen Südhänge relativ leicht – auch wenn die Absturzgefahr im oberen Teil nicht vollständig gebannt ist. Es ist erstaunlich, welch breites Spektrum an Menschen sich bei schönem Wetter im August auf diesem Berg tummelt. Fast wie bei einem Stadtspaziergang werden sogar Hunde an der Leine bis ganz oben geführt, auch diese scheinen den Ausflug zu genießen. Auf dem Gipfel des Rocciamelone, dessen Nordseite immer noch von einem langsam verschwindenden Gletscher gekrönt ist, kann man viele eindrucksvolle Viertausender oder Fastviertausender bewundern: Monte Viso, Pelvoux, Barre des Ecrins, Meije, Mont Blanc, Gran Paradiso, Monte Rosa. Auch heutzutage fasziniert dieser Rundblick die Menschen, egal ob sie aus spiritueller Motivation oder aus alpinistischen Gründen hier heraufgestiegen sind. Die höchsten Stellen, die ganz hohen Barrieren aus Erdkruste im Alpenraum, die der Erosion standgehalten haben und weit in den Himmel ragen, leuchten mit ihren Gletschern über weite Strecken am Horizont und lassen uns die enormen Kräfte des Universums spüren.

Themen dieses Artikels