Weinreben mit Dorf im Hintergrund
Der Wein profitiert von der Lage Liechtensteins: viel Sonne und warmer Wind. Foto: Jakob Neumann
Liechtenstein-Weg

Ein Land zu Fuß durchqueren

Liechtenstein ist mehr als ein Finanzplatz: pittoreske Dörfer, schöne Wanderwege und schroffe Zweitausender. Auf dem neuen Liechtenstein-Weg kann man das Land zu Fuß erkunden.

Es gibt in Europa ein Land, das ein wenig exotisch anmutet: kein Flughafen, kein Fernbahnhof, kein Militär, dafür mehr Arbeitsplätze als Einwohner*innen. Die Rede ist von Liechtenstein, einem kleinen Staat zwischen Österreich und der Schweiz. 2019 wurde das Fürstentum 300 Jahre alt, und als Geburtstagsgeschenk gab’s den Liechtenstein-Weg, eine Wanderroute durch alle elf Gemeinden des Landes. Wer die 75 Kilometer bewältigt, darf behaupten, ein ganzes Land zu Fuß durchquert zu haben. Nur der Kilometer wegen macht man den Liechtenstein-Weg dann aber doch nicht.

Schließlich gibt es entlang der Route einiges zu entdecken: Schlösser, Burgruinen, viel Natur und sogar einheimischen Wein.

Wer alpine Ambitionen hat, kann die Gipfel der umliegenden Berge besteigen. Der Liechtenstein-Weg allerdings ist ein Wanderweg, der auch ohne Gipfelerlebnisse auskommt. Was nicht heißen soll, dass nicht auch anstrengende Etappen warten. Der Startpunkt ist ganz im Süden an der schweizerisch-liechtensteinischen Grenze nahe dem Ort Balzers. Vom ersten Schritt an hat man einen Blick auf die nahen Berge, deren Gipfel die Morgensonne golden reflektieren. Im Rücken der Mittlerspitz, dessen Fels in diesen frühen Stunden des Tages noch einen langen Schatten wirft. Erst später wird es die Sonne über den 1899 Meter hohen Gipfel schaffen und die Morgenkühle vertreiben. Bereits in Sichtweite: Balzers mit der Burg Gutenberg. Seit 800 Jahren thront die Burg auf einem Hügel in der Mitte des Ortes und scheint die Menschen dort zu bewachen. Auf diesen ersten Kilometern ist grün die dominierende Farbe: Bäume, Wiesen, Felder. Einzig Obstbäume mit ihren roten und gelben Äpfeln und Birnen unterbrechen die verschiedenen Grüntöne. An den Hängen des Hügels, auf dem die Burg Gutenberg in Balzers steht, wächst Wein. Dunkelblaue Trauben hängen an den Reben. Knapp unterhalb der Burg, am Fuße des Hügels, steht die Jubiläumskirche und läutet zum Gottesdienst.

Seit 800 Jahren thront Burg Gutenberg auf dem Hügel. Foto: Jakob Neumann

Die Sonne wagt sich immer wieder aus ihrem Versteck hervor und wärmt in diesen Momenten. Wieder weg von der Hauptstraße, schlängelt sich ein schmaler Pfad zwischen alten Bauernhäusern. Dort steht ein kleiner Bücherschrank samt einer Bank. Vielleicht ein Zeichen für eine erste Rast. Ein geschotterter Wanderweg führt aus der Gemeinde hinaus. Die Sonne hat es mittlerweile geschafft, sich auch über die höchsten Gipfel im Osten zu erheben. An diesem Augustvormittag riecht es nach frisch gemähtem Gras und Heu, das von der Nacht noch feucht ist. Links und rechts des Weges stehen immer wieder Bänke, manchmal auch Tische. Es kostet ein wenig Beherrschung, nicht an jeder eine Pause zu machen; zu einladend wirken sie in der malerischen Umgebung. Später geht es das erste Mal sanft bergauf. Auf den bald schattigen, bald sonnigen Wegen sind nur wenige Menschen unterwegs. Am Wegrand Streuobstwiesen, deren Bäume darauf zu warten scheinen, von ihren reifen Äpfeln, Birnen und Zwetschgen befreit zu werden.

Langjährige Weintradition

Nächste Gemeinde: Oberdorf, ein Ortsteil von Triesen. Immer wieder kreuzen Traktoren. In Liechtenstein scheint man sein Geld nicht nur mit Finanzprodukten zu verdienen. In Triesen beschreibt der Weg eine Runde, hindurch zwischen pittoresken Häusern und immer wieder kleinen Weingärten. Danach geht es durch die Ortschaft bergauf. Der Weg ist asphaltiert, doch die Steigung hat es in sich. Liechtenstein hat eine langjährige Weintradition. Auf dem heutigen Gebiet des Fürstentums wurde schon im 14. Jahrhundert Wein angebaut. Heute gibt es sowohl rote wie auch Weißweine. Am besten jedoch wächst der Blauburgunder. Etwa vier Tonnen werden in Liechtenstein jährlich geerntet. Das ergibt knapp 3000 Liter, nicht besonders viel, „gerade genug für den Eigengebrauch“, sagt Martina Heeb, eine junge Winzerin, die in der Hofkellerei Vaduz arbeitet, einer späteren Station der Tour. Oberhalb von Triesen steht St. Mamerta, eine kleine Kapelle aus dem neunten Jahrhundert. Danach geht es in Serpentinen bergauf. Auf halber Höhe hat man einen guten Überblick über die eben durchquerten Orte. Dahinter der junge Rhein, der freilich noch nichts von seiner späteren Größe, kurz vor der Mündung in die Nordsee, hat. Er markiert die Grenze zur Schweiz, die nur einen Steinwurf entfernt scheint. Wobei es kaum einen Punkt in Liechtenstein gibt, auf den das nicht zutrifft. Oberhalb von Oberdorf dann der erste Wegabschnitt, der als Wanderpfad durchgehen würde. Die nächste Station ist Triesenberg. Rennradfahrer*innen quälen sich über die Landstraße hinauf. Liechtenstein hat auch einen sehr gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr, lange lassen die Busse, die jede kleinste Siedlung anfahren, nie auf sich warten. Selbst von dort muss man nicht weiterlaufen. An vielen Stationen gibt es Leihräder. An einer Haltestelle in Triesenberg stehen ein Mountainbike und ein Trekkingrad, die man sich für jeweils 24 Schweizer Franken – etwa 22 Euro – pro Tag ausleihen kann. Doch wir sind hier, um Liechtenstein zu Fuß zu erkunden.

Das über 800 Jahre alte Schloss Vaduz ist das Wahrzeichen Liechtensteins und Sitz des Fürstenhauses. Foto: Jakob Neumann

Am Ende eines besonders schönen Streckenabschnitts steht Schloss Vaduz, der Sitz des Fürstenhauses Liechtenstein. Zu Füßen des Schlosses liegt die gleichnamige Stadt, der Hauptort Liechtensteins. Die Gemeinde wirkt geschäftig. Meistens hört man Schwyzerdütsch, daneben auch immer wieder andere Sprachen: Französisch, Italienisch, Englisch. Zwischen Tourist*innen in kurzen Shorts laufen Menschen in Business-Kleidung umher, nicht selten das Handy am Ohr. In Vaduz befindet sich dann auch die Hofkellerei. Die Weinhänge entlang der Strecke sind manchmal kaum größer als ein Schrebergarten. Vaduz liegt auf knapp 500 Metern – eher untypisch für eine Weinanbauregion. Es ist die besondere Lage des Fürstentums, dank der die Trauben saftig und süß werden. „Ganz Liechtenstein liegt auf der Sonnenseite des Rheintals“, erklärt Martina Heeb, die Winzerin aus der Hofkellerei. Der warme Wind aus dem Süden, der Föhn, tut sein Übriges. Die kleinen Weinhänge werden nicht von einer großen Kellerei bearbeitet. Vielmehr kümmern sich die Privatleute um die Pflege und Lese der Trauben. Viele von ihnen haben sich zu Winzergenossenschaften zusammengeschlossen.

Markante Felsen gibt's auch

In Vaduz macht der Weg eine Schleife, danach geht es bergan. Weiter oben duften Nadelbäume in der warmen Mittagssonne. Ein kleiner Weg führt durch den Wald, passiert Mühleholz, später Schaan. Es geht weiter bergauf. Der Weg nach Planken ist schmal. Dort angekommen, geht es wieder bergab, Richtung Nendeln. Während dieses Abschnitts immer im Blick: die Drei Schwestern – drei markante Felstürme, für die Liechtenstein bei Bergsteigenden bekannt ist. Auf dem Weg auf den 2051 Meter hohen Gipfel kommt man an einer der beiden Hütten des Liechtensteiner Alpenvereins vorbei, der Gafadurahütte. Die Preise für eine Übernachtung sind für Liechtensteiner Verhältnisse sehr moderat: Mitglieder zahlen 15 Franken pro Nacht. Dank des Gegenrechts gilt das auch für Mitglieder anderer Alpenvereine, darunter die des DAV. Später, die Drei Schwestern im Rücken, geht es nach Eschen. Der Weg führt aufwärts durch ein Wohngebiet. Danach, die letzten Wohnhäuser sind nicht mehr zu sehen, sind das erste Mal während der Tour Kuhglocken zu hören.

Eine Landschaft, die an das Allgäu erinnert: sanfte Hügel, grasende Kühe, schmale Straßen und alles umrandet von Zweitausendern, deren felsige Gipfel aus ihrem grünen Kleid zu schlüpfen scheinen.

Während der gesamten Tour bisher begleitet uns der Anblick kleiner und großer Liechtenstein-Flaggen. Die Fähnchen haben die gleichen Farben wie die Markierung des Liechtenstein-Wegs: rot, blau, gelb. Die Menschen hier feiern am 15. August ihren Staatsfeiertag, die Flaggen zeugen davon, dass das noch nicht lange her ist. Es geht wieder bergab, vorbei an einer Mariengrotte im Gemeindeteil Bendern. Eine Frau kniet mit gesenktem Kopf vor dem Geländer der Lourdesgrotte. Der Weg führt auf den Rheindamm Richtung Norden – asphaltiert mit genug Platz für alle. Auffällig viele der Radfahrer*innen haben Laptoptaschen umgehängt. Scheinbar ist der Damm, diese Nord-Süd-Tangente, eine Alternativroute für unmotorisierte Fahrzeuge. Wer dem Autoverkehr entgehen möchte, hat hier seine Ruhe. Der Weg folgt dem grauen Asphaltband nicht lange, sondern führt an der Sportanlage Grossabünt vorbei. Wer noch Kraftreserven hat, kann sich hier verausgaben. Es gibt einen Badesee, einen Kletterturm und ein kleines Fußballfeld. Man kann sich aber auch einfach nur auf die Liegewiese legen und ein wenig entspannen.

Natur pur zwischen Burgruinen

Die Route führt weiter durch Gamprin. Anschließend geht es bergab durch einen Wald. Entlang der Strecke stehen moderne Trimm-Dich-Stationen, an denen man nicht nur die Beinmuskeln trainieren kann. In Ruggell beschreibt der Weg eine Schleife durch den Ort, dann entlang des Deichs des Binnenkanals, der parallel zum Rhein fließt. Ab hier dominieren die Felder, Moore und Wiesen des Ruggeller Riets, eines Naturschutzgebiets in der Talebene Liechtensteins. Kein einziger Mensch ist zu sehen, kaum Zivilisationslärm zu hören. Trotzdem spürt man, dass man nicht allein ist. Insekten, Amphibien und Vögel fühlen sich in den Hecken, Mooren und Weihern links und rechts des Weges wohl. Später führt der Weg an der Grenze zu Österreich vorbei. Dort stehen Grenzbeamte und fragen Einreisende, ob sie etwas zu verzollen haben. Ein mittlerweile ungewohnter Anblick in Europa, doch Liechtenstein gehört nicht zur Europäischen Union. Hier, in der Nähe zum östlichen Nachbarland, kann man sich ins österreichische Mobilfunknetz einwählen. In Liechtenstein werden meist Roaming-Gebühren fällig. Danach geht es weiter auf einem Feldweg in Richtung Süden. Im Westen verschwindet die Sonne hinter der Alviergruppe auf der Schweizer Seite. Auf frisch gemähten Feldern finden Krähen, Störche und Graureiher reichlich Futter. Nach einiger Zeit geht der Weg nach links auf einen kleinen, ansteigenden Wanderweg. Der Pfad führt zur Burgruine Alt-Schellenberg. Danach in die Gemeinde Schellenberg. Anschließend geht es wieder in Richtung Norden, und dann, entlang der Grenze zu Österreich, auf eine weitere Burgruine zu, die Obere Burg Schellenberg. Bergab durch den Wald führt die Tour nach Mauren mit dem Gemeindeteil Schaanwald, der letzten der elf Gemeinde-Stationen. In Mauren steht das „Vogelparadies Birka“, wo zahlreiche Vogelarten gehalten werden: Sittiche, Amazonen, Papageien, Pfauen, aber auch Amphibien und seltene Pflanzen. Die Anlage ist frei zugänglich. Wenig später, durch Schaanwald hindurch, kommt erneut die Grenze zu Österreich in den Blick. Das Handy, das die Tour getrackt hat, zeigt gut 75 Kilometer an.

Themen dieses Artikels