Illustration: Vier Personen wandern auf eine Klippe zu. Während die erste nach hinten schaut, droht sie mit einem nächsten Schritt in den Abgrund zu fallen.
Bedrängnissituation am Berg: Ablenkung durch die Gruppe. Illustration: Marmota Maps/Lana Bragin
Gruppenprozesse

Ablenkung durch die Gruppe

Kennst du das?: Ich/die Gruppe oder jemand in der Gruppe geriet in Bedrängnis wegen Ablenkung durch die Gruppe, z. B. deswegen nicht auf dem richtigen Weg, nicht auf die Wetterentwicklung geachtet, zu lange Pausen gemacht, "getrödelt" und in Bedrängnis geraten usw.

Faustregel

Es gibt zwei Faustregeln, die helfen, Ablenkungsprozesse in Gruppen ohne formale Führung gering zu halten:

  • „Wer vorne ist, führt“: Wenn du vorneweg gehst, verstehe dich als die Person, die die Gruppe führt.

  • „Wer, wenn nicht ich“: Wenn du in der Gruppe an einer anderen Position läufst, sei dir bewusst, dass niemand zuständig ist, die Gruppe zu führen. Wenn es aus deiner Sicht also etwas gibt, was die Gruppe besprechen, bedenken oder entscheiden sollte, bist du zuständig, dafür zu sorgen, dass dein Anliegen in die Gruppe kommt.

Geltungsbereich

Es sind Gruppensituationen gemeint, die nicht formal geführt sind (bspw. als Führungstour einer Sektion o. ä.)

Theoretischer Hintergrund

Es ist völlig normal, sich beim Bergwandern nicht ständig auf die Wetterentwicklung, Orientierung oder andere mögliche alpine Gefahren zu konzentrieren. Einer der Gründe, warum wir in die Berge gehen, ist schließlich, dass wir das Unterwegssein, die Natur und gerade auch das gemeinsame Erlebnis in der Gruppe schätzen. Das wiederum heißt: In der Gruppe gehört es zum Bergwandern dazu, abgelenkt zu sein und Ablenkung oder Zerstreuung vielleicht sogar bewusst zu suchen.

Ablenkung innerhalb und durch die Gruppe an sich ist zunächst einmal also nicht problematisch. Ein Problem ergibt sich erst dann, wenn wichtige Informationen wie eine Wetterverschlechterung oder die fortgeschrittene Tageszeit nicht rechtzeitig wahrgenommen werden und/oder deswegen schlechte Entscheidungen getroffen werden.  

Um sich gegen eine problematische Ablenkung zu wappnen, ist es hilfreich zu verstehen, welche Mechanismen hier am Werk sind: Zunächst sind wir von unserem Wahrnehmungsapparat her gar nicht in der Lage, stets und ständig alle Informationen in der Umwelt aufzunehmen und zu verarbeiten. Vielmehr nehmen wir Informationen selektiv wahr. Und zwar nehmen wir bevorzugt solche Informationen wahr, die für uns bedeutsam sind und/oder unseren Erwartungen entsprechen. Sind wir beispielsweise der festen Überzeugung, an einer bestimmten Stelle zu sein (obwohl wir woanders sind), werden wir nach Merkmalen in der Landschaft suchen, die dem vermeintlichen Standort auf der Karte entsprechen und andere Hinweise in der Landschaft ausblenden.

Auf die gleiche Art und Weise nehmen wir während einer Wanderung nicht ständig alle Informationen wahr, sondern sind abgelenkt, weil wir unseren Gedanken nachhängen, uns unterhalten oder körperlich angestrengt sind. Diese sogenannte selektive Informationswahrnehmung findet auch statt, wenn wir alleine unterwegs sind, wird aber durch verschiedene Gruppeneffekte noch verstärkt:

Noch richtig hier? – In der Gruppe ist es deutlich einfacher, abgelenkt zu sein und beispielsweise vom geplanten Weg abzukommen. Foto: AdobeStock

Ein Gruppeneffekt begründet sich darin, dass wir als Mitglied einer Gruppe in unseren Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen und unserem Verhalten immer auch Aspekte der Gruppe berücksichtigen. Beispielsweise wollen wir eine gute Stimmung in der Gruppe aufrechterhalten und Konflikte vermeiden. Daher lassen wir uns lieber von der guten Stimmung ablenken als auf unangenehme Situationen wie eine Wetterverschlechterung hinzuweisen. Außerdem erfordert es manchmal auch etwas Mut, sich gegen die wahrgenommene Stimmung oder Meinung in der Gruppe zu positionieren.

Ferner fühlen wir uns in Gruppen üblicherweise geborgener und sicherer, als wenn wir alleine unterwegs wären. Daher neigen wir dazu, mögliche Gefahren zu unterschätzen. Dieses Sicherheitsgefühl in Gruppen kann dazu beitragen, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, wie wir eigentlich Entscheidungen treffen und wer für die Entscheidungen (bspw. die Wegfindung) verantwortlich ist. Diese sogenannte Verantwortungsdiffusion kann im ungünstigen Fall dazu führen, dass wir als Gruppe immer weitergehen, obwohl einzelne Gruppenmitglieder sich bereits unwohl fühlen oder anders entscheiden würden. Da nicht klar ist, wie die Gruppe zu Entscheidungen kommt, fühlt sich auch niemand dafür verantwortlich.

Weiter oben wurden die beiden Faustregeln genannt, um Ablenkung innerhalb einer Gruppe gering zu halten. Doch was passiert mit einer ungeführten Gruppe, die ohne diese Faustregeln unterwegs ist?

Angenommen, die Gruppe kommt an eine Wegabzweigung: Die vorangehende Person ist sich sicher, dass die Abzweigung richtig ist und nimmt sie. Sie könnte denken „Wenn jemand anderer Meinung ist, kann er/sie ja etwas sagen“. Die Personen in der Gruppe könnten wiederum denken (sofern sie die Abzweigung überhaupt bemerken): „Er/sie nimmt die Abzweigung ohne Zögern. Wird es also schon passen, denn sonst würde er/sie ja was sagen.“ Doch niemand sagt etwas. Mit Anwendung der ersten Faustregel – „Wer vorne ist, führt“ – gehört es zu eben dieser guten Führung, die Gruppe in Kenntnis zu setzen, dass die Abzweigung richtig ist. Das kann ganz lapidar in die Gruppe gebracht werden: „Wir müssen hier abbiegen, gerade weiter geht‘s zur X-Scharte, dahin wollen wir ja nicht.“ Dadurch wird der Bann des Schweigens gebrochen und andere können nun ihre Zustimmung oder Meinung leichter kundtun.

Ablenkungsfaktoren werden weiter eingehegt, wenn die Gruppe bei der Tourenplanung bereits Entscheidungspunkte festlegt. Dies sind Punkte wie eine wichtige Weggabelung, der Beginn einer Gratüberschreitung oder der Beginn eines steilen Abschnittes. An solch einem Punkt bleibt man gemeinsam stehen und trifft eine bewusste Entscheidung über den weiteren Verlauf der Tour:

  • Sind die Verhältnisse so wie erwartet oder sind neue Informationen dazugekommen?

  • Passt der Zeitplan noch?

  • Ist die Ausrüstung angemessen?

  • Ist jedes Gruppenmitglied der Tour gewachsen?

Das bewusste Innehalten und Nachdenken an Entscheidungspunkten verhindert, durch ungewollte Ablenkung in heikle Situationen zu kommen. Auch hier gilt: Wer, wenn nicht ich“ – sind also wider Erwarten doch alle anderen abgelenkt und haben einen wichtigen Wegpunkt verpasst, mach deutlich darauf aufmerksam.  

Prävention

Allein schon das Wissen darüber, dass es die beschriebenen Effekte wie selektive Wahrnehmung, Gruppeneinfluss oder Verantwortungsdiffusion gibt, kann helfen, weniger anfällig dafür zu sein.

Während einer Wanderung kannst du ritualhaft in regelmäßigen Abständen kurz darüber nachdenken, wie ihr gerade als Gruppe unterwegs seid:

  • Sind wir stark abgelenkt?

  • Nehmen wir alle relevanten Informationen wahr?

  • Wie treffen wir Entscheidungen und wer ist für die Entscheidungen verantwortlich?

  • Wie ist die Stimmung und welchen Einfluss hat sie auf unsere Entscheidungen?