Gruppe von Menschen steht an Gipfelkreuz
Wo laufen wir denn hin? Wer eine Gruppe durchs Gebirge führt, muss die Karte und das Wetter lesen können. Foto: Anke Wolfert
Wandergruppen führen lernen

Anleitung zum langsam Gehen

Rund 180 Wanderleiter*innen bildet der DAV jährlich aus, insgesamt haben rund 3400 Mitglieder die Lizenz, um für ihre Sektionen ehrenamtlich geführte Bergwanderungen anzubieten. So wie Anke Wolfert, die letzten Sommer Lehrgang und Prüfung absolviert hat. Das Lernziel: Bergwanderungen kompetent planen und durchführen – Umweltbildung und pädagogische Aspekte inklusive.

Schon die Fahrt von Sachsen nach Bayern ist eine Reise in eine „andere Welt“: In München ist die Corona-Maske omnipräsent. Ein paar Tage zuvor durchwanderte ich die Sächsische Schweiz, dort spielte sie zu dieser Zeit kaum noch eine Rolle. Bei der Fahrt mit der Bayerischen Oberlandbahn sehe ich die erste Frau im Dirndl, und im DAV-Haus am Spitzingsee gibt es für zwei Euro fünfzig bayerische Gemütlichkeit in Form einer Flasche Hefeweißbier aus dem Automaten. Der erste Abend im bewarteten Selbstversorgerhaus der DAV-Sektion München dient dem Kennenlernen: Unsere Gruppe besteht aus sechs Frauen und neun Männern aus Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachsen, die Altersspanne reicht von Mitte zwanzig bis Anfang siebzig. Unsere Ausbilder sind Helmut („Heli“) und Jürgen; Axel steuert Informationen zum Naturschutz bei und wird uns zwei Tage begleiten.

Von der Theorie in die Praxis

Am nächsten Morgen geht es los mit Theorie. Wir lernen, was es heißt, eine Bergwanderung akkurat zu planen: Kilometer pro Stunde in der Ebene, Richtwerte für Höhenmeter im Aufstieg und Abstieg pro Stunde, das sind die Grundlagen zur Berechnung der Gehzeit einer Tour.

Manche Ausbildungsinhalte werden erstmal in der Theorie vermittelt. Foto: Anke Wolfert

Um 10 Uhr setzen wir unsere Planung in die Praxis um und starten mit Jürgen und Heli in zwei Gruppen. Axel wechselt nach der Mittagspause von einer zur anderen Gruppe und macht uns bekannt mit Mädesüß, Wildem Majoran, Thymian, Rossminze und sogar einer fleischfressenden Pflanze, dem Alpenfettkraut. Jürgen lässt sich die aktuelle Position auf der Karte zeigen, natürlich nehmen wir alle den Zeigefinger. Und lernen: Das ist zu ungenau. Ein durchschnittlicher Zeigefinger deckt auf der Alpenvereinskarte eine Fläche von 250 x 250 Meter ab. Besser ist es, einen Grashalm oder einen Zahnstocher zu verwenden. Unterwegs zu Rosskopf (1580 m) und Stolzenberg (1609 m) bremst uns Jürgen immer wieder. Wer eine Gruppe führt, muss so langsam gehen, dass es auch für das schwächste Mitglied passt. Nach dem Abendessen geht es um Natur- und Umweltschutz, danach planen wir in Kleingruppen die Tour für den nächsten Tag. Mittlerweile ist es fast zehn und die Konzentration ist bei allen am Ende. Ich kann die Höhenlinien nicht mehr erkennen und verzähle mich ständig. Also beenden wir die Tourenplanung, auch wenn sie nicht perfekt ist. Ich falle müde ins Bett und kann nicht einschlafen. Mein Hirn ist überreizt. Die nächste Wanderung führt uns unter anderem zur urigen Freudenreich-Alm. An einem Steilhang hinter der Alm führt Heli den richtigen Stockeinsatz vor. Leicht und elegant hüpft er mit zwei Trekking-Stöcken den Abhang hinunter, nur seine Fußballen berühren den Boden. Später zeigt er uns den Umgang mit dem langen Wanderstock, den er sich von der jungen Sennerin geliehen hat. Dann sind wir dran. Wir üben sowohl klassisch mit nur einem als auch mit zwei Teleskopstöcken, doch mit Helis B-Note kann niemand mithalten.

Gehtechnik, Wetterkunde, Gruppendynamik: Theoretisches wird in der Praxis vertieft. Foto: Anke Wolfert

Orientierung und Wetterkunde

Weiter geht es durch ein steiles Waldstück bergauf zur Rainer-Alm – „Orientierung in weglosem Gelände“. Die Almwirtin ist nicht amüsiert ob unserer Wegführung. Sie fragt, wer wir sind, woher wir kommen und warum wir nicht auf den Wegen bleiben. Heli erklärt den Ausbildungscharakter der Wanderung. Seine Antwort befriedet die Dame – etwas. Sie verkauft uns Getränke und es gibt für alle eine Kostprobe vom Almkäse. Der kommt auf einem Porzellanteller mit handgemalten blauen Enzianblüten daher und Axel steuert aus seinem persönlichen Vorrat noch etwas Hirschsalami bei. Schon gegen halb vier Uhr sind wir zurück am DAV-Stützpunkt, die beste Zeit, um nach einer Dusche gemütlich einen Kaffee zu trinken. Ab fünf Uhr folgt eine weitere Theorie-Einheit zu Wetter und Wetter-Apps. Und nach dem Abendessen geht es noch mal weiter mit Lernen. Um acht ist Schluss, alles in allem ein „entspannter“ Tag – von sieben bis zwanzig Uhr. Mittwoch ist Halbzeit, ein Schlechtwetter- und Ruhetag. Dabei ist das Wetter gar nicht so schlecht und auch der Begriff „Ruhetag“ ist relativ: Heute steht keine Wanderung an und Frühstück gibt es erst um acht. Danach sitzen wir im Seminarraum und befassen uns noch einmal mit Wetterkunde. Den meisten von uns raucht der Kopf wegen der vielen Wolkenarten. Den Theorie-Block zur Ersten Hilfe führt Heli auf der Terrasse durch, der Praxisteil findet an einem Hang zwischen Unterkunft und Spitzingsee statt; das bringt uns viel Publikum ein. Wir lernen, mit Trekkingstöcken und Biwaksack eine behelfsmäßige Trage zu bauen.

Üben für den Fall der Fälle: behelfsmäßige Trage aus Trekkingstöcken und Biwaksack. Foto: Anke Wolfert

Und haben die Aufgabe, uns als Gruppe vor einem Wärmegewitter in Sicherheit zu bringen. Nach einer kurzen Diskussion darüber, ob man unter Bäumen Schutz suchen darf oder nicht, entscheiden wir uns dafür. Wir steigen paarweise in die Biwaksäcke, ich habe das Modell ultraleicht, also eine riesige „Alu-Tüte“. Meinem Partner und mir bricht sofort der Schweiß aus und der Biwaksack wird mehrfach von Zweigen und Ästen durchbohrt. Ist wohl eher als Not-Biwak für den einmaligen Gebrauch gedacht. Blöd nur, dass meiner geliehen war!

Sicher am Berg unterwegs sein heißt, auch in Notfallsituationen das Richtige zu tun. Foto: Anke Wolfert

Am Abend folgt ein weiterer Theorie-Block und später die Tourenplanung für den nächsten Tag. Die meistern wir inzwischen schon routiniert. Bereits beim Aufwachen bin ich nervös. Für heute hat Heli eine Tour angekündigt, bei der es höher hinauf geht und steiler werden soll als an den vorangegangenen Tagen. In Mittelgebirgen fühle ich mich sicher, in den Alpen bin ich dagegen nur gelegentlich unterwegs. Vor dem Start der Tour übernehme ich den Ausrüstungscheck der Gruppe und führe sie dann über den Taubenstein (1692 m) bis zum Rotwandhaus (1737 m). Am Taubenstein gibt es die erste leichte Kraxelei, auf der Rotwand (1884 m) machen wir Mittagspause und arbeiten danach intensiv mit Karte, Planzeiger und Kompass. Die Sonne macht uns heute sehr zu schaffen. Der Abstieg von der Rotwand auf den Sattel ist steil, die Steine sind rutschig. Ich bin die Schwächste in einer starken Gruppe und der Abstieg fordert meine volle Konzentration. Zurück im Basislager, hält Jürgen seinen Vortrag über Materialkunde. Jetzt wissen wir, was wir uns nach der Ausbildung noch kaufen müssen. Wie jeden Tag steht nach dem Abendessen die Tourenplanung für den nächsten Tag an, in diesem Fall für den Prüfungstag. Raphael fragt mich: „Wollen wir zusammen messen?“ Meine Antwort: „Ja, gerne!“ Was wie eine Verabredung zum Berg-Date klingt, ist ein Arbeitsbündnis: Distanzen messen, Höhenlinien zählen, Gehzeiten berechnen. Gegen 21 Uhr beenden wir die Planung. Es folgt ein Partnerwechsel: Nele und ich gehen noch einmal die Wolkenarten durch. Um halb zehn passt keine einzige mehr ins Hirn und ich trinke erstmals in meinem mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Leben eine „Russ’n Halbe“ – Weißbier mit Zitronenlimo.

Prüfung bestanden?

Freitag ist Prüfungstag, um acht starten wir in zwei Gruppen. Es ist ein bisschen wie früher in der Schule: Die Frauen sind aufgeregt, obwohl sie gestern besonders lange gelernt haben. Die Männer sind gelassen. Oder tun sie nur so? Nach einem Anstieg von 200 Höhenmetern machen wir im Schatten der Oberen Firstalm die erste Pause. Jürgen nutzt die Gelegenheit für einen schriftlichen Test. Welche Wolken seht ihr gerade am Himmel? Wie werden ein Sattel, ein Rücken und eine Doline in der Karte dargestellt? Wir steigen weiter auf und zweigen bald in Richtung Freudenreichkapelle ab. Die kleine hölzerne Kapelle steht exponiert da und ist unbedingt ein paar Fotos wert.

Erbauliches Fotomotiv auf dem Weg zur Brecherspitze: die Freudenreichkapelle. Foto: Anke Wolfert

Der folgende Abstieg ist steinig und feucht, mit vielen Wurzeln. Meine Trittsicherheit ist nicht die beste, daher gehe ich direkt nach dem jeweils Führenden. Wir pausieren auf der Ankelalm, bei Gluthitze geht es weitere 400 Höhenmeter bergauf zur Brecherspitze (1683 m). Raphael führt, alle schwitzen. Ich schnaufe, Jürgen bremst. Dann nehmen wir den Weg über den Grat, hier sind Schwindelfreiheit und Trittsicherheit gefordert. Eine besonders ausgesetzte Stelle ist drahtseilversichert, doch die Gratwanderung ist einfacher als gedacht. Schließlich führe ich die Gruppe auf einem einfachen Weg ins Tal. Gegen 17 Uhr erfahren wir unsere Prüfungsergebnisse. Alle haben bestanden! Am Abend sitzen wir bei hochsommerlichen Temperaturen auf der Terrasse und reden, trinken und spielen Karten. Nach einer sonnigen und anstrengenden Woche sitzt die Hose lockerer als bei der Ankunft, dafür ist der Wissenszuwachs enorm. Die meisten wollen mit dem Trainer C Lehrgang 2 weitermachen. Kati verspricht noch, eine WhatsApp-Gruppe einzurichten – Samstag früh sind dann alle ganz schnell weg. Und ich? Ich fahre zurück nach Dresden, gut gewappnet, um erste Wanderungen in der Sächsischen Schweiz anzubieten.

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