In den Laghi di Campagneda spiegelt sich der Monte Disgrazia.
In den Laghi di Campagneda spiegelt sich der Monte Disgrazia. Foto: Ingo Röger
Hüttentour im Valmalenco

Abenteuer auf der anderen Seite

Ob „Festsaal der Alpen“ oder „Himmelsleiter Biancograt“: Wenn vom Piz Bernina und der gleichnamigen Gebirgsgruppe die Rede ist, wird mit markigen Worten nicht gegeizt. Doch die Südseite dieses prominenten Gebirgsstocks kennen nur die Wenigsten. Dabei bietet das Valmalenco – so heißt das Tal, das bei Sondrio ins Veltlin mündet – alle Zutaten für unvergessliche Bergtage.

Zum ersten Mal mit der Familie eine ganze Woche von Hütte zu Hütte wandern, so lautet der Plan. Das hierzulande kaum bekannte Valmalenco scheint für das Vorhaben wie geschaffen: Die norditalienische Region ist mit einem dichten Netz an Höhenwegen überzogen. Fast zwanzig Hütten, deren Namen melodisch in den Ohren klingen, bieten komfortablen Unterschlupf. Nicht nur die Berninagruppe mit dem einzigen Viertausender der Ostalpen auf der Schweizer Grenze, auch die herausragenden Bergstöcke von Monte Disgrazia (3678 m) und Pizzo Scalino (3323 m) sorgen für eine gewaltige Kulisse. Erwartungsfroh brechen wir in die Lombardei auf – ich, meine Frau Agnes, Jakob (12) und Anneli (16).

Im Skiort Chiesa vereinigen sich zwei kleinere Flüsse und formen auf der Karte ein verschobenes „Y“. Unser Ausgangspunkt ist der idyllische Weiler Chiareggio, der sich 600 Meter höher im nordwestlichen Talschluss befindet. Ziel der Tourenwoche wird der Stausee Campo Moro an der nordöstlichen Spitze des „Y“ sein. Unterwegs orientieren wir uns zum Teil an der Alta Via della Valmalenco, jenem Höhenweg, der das Tal nahezu komplett umrundet. Die beiden mittleren Etappen sind mit Absicht kurz geplant, damit genügend Zeit für den ersten Dreitausender der Familie und einige Abstecher zum Gletschereis bleibt.

Gipfelschau vom Monte delle Forbici: Piz Roseg, Piz Scerscen, Piz Bernina und Crast d’Agüzza (v.l.n.r.), rechts das Rifugio Carate Brianza unter den dunklen Musellagipfeln. Foto: Ingo Röger

Vor dem Startschuss zur eigentlichen Tour stehen zur Akklimatisation zwei Übernachtungen auf dem Rifugio Gerli Porro an. Der Weg zur malerischen Alpe Ventina führt durch sonnendurchfluteten Lärchenwald. Die östlichen Felskämme des Bergell ragen vor uns in den Sommerhimmel, über der Alpe erhebt sich der Monte Disgrazia. Nahe der einladenden Hütte mit dem knallroten Dach lockt die Via Ferrata al Torrione Porro, der einzige Klettersteig der Region: eine entspannte Halbtagesunternehmung mit viel Eisen und wenig Felskontakt. Das muss man mögen, der Nachwuchs jedenfalls hat Spaß an der vertikalen Turnerei.

Der Monte Disgrazia wirkt heute – von düsteren Wolken umgarnt – recht bedrohlich, dafür verspricht das kleine rote Dach unter uns Geborgenheit. Vom Gipfel des Torrione Porro (2435 m) blicken wir im einsetzenden Regen auf den Lago Pirola und dahinter zum Monte Senevedo. Beim Abstieg – der Regen hat nachgelassen – informiert ein Themenweg über die knorrigen bis zu tausendjährigen Zirben, die hier Schnee und Stürmen trotzen.

Über uns stürzen zahllose Wasserfälle eine wilde Steilstufe herab und zur Rechten grüßt kühn der Monte Disgrazia, heute ganz ohne Wolken.

Am Nachmittag folgen wir dem Gletscherlehrpfad zum Vedretta Ventina und studieren traurig die Gletscherstände der letzten 150 Jahre. Zurück in Chiareggio tauschen wir das Klettersteigequipment gegen frischen Proviant und gönnen uns noch ein Gelato. Nun geht’s richtig los! Die urigen Steinhäuser entschwinden bald dem Blick, und bis zur Alpe Fora geht es durch dunklen Tannenwald. Dort treffen wir zu Jakobs Entzücken erstmals auf weidende Kühe. Der Weg wird flacher und führt über Bergwiesen unter dem Pizzo Malenco (3438 m) dahin. Über uns stürzen zahllose Wasserfälle eine wilde Steilstufe herab und zur Rechten grüßt kühn der Monte Disgrazia, heute ganz ohne Wolken. Hinter einer Felsnase taucht das Rifugio Longoni auf: gelegen auf einem breiten Sims, 1400 Meter über dem Talgrund. Im Süden – jenseits des Veltlins – erheben sich die schier endlosen Kämme der Bergamasker Alpen.

Jakob und Anneli genießen den Weg zum Rifugio Marinelli Bombardieri. Foto: Ingo Röger

Nur eine Handvoll Gäste weilt im Rifugio. Dem anfangs etwas kauzig wirkenden Wirt gehen zwei junge Gehilfen zur Hand. Beim Abendessen, es steht mal wieder Polenta auf der Kar te, entdeckt Anneli ein Schachbrett und ist enttäuscht, dass wir kein Interesse zeigen. Der junge Koch bemerkt‘s und bietet sich als Mitspieler an. Beide sind happy und für ein paar Partien hat Anneli einen charmanten Lehrmeister gefunden. Auf dem Rifugio Marinelli Bombardieri (2813 m) wollen wir unseren Familienrekord in Sachen Schlafhöhe weiter steigern. Der Weg dahin hat es in sich. Kurz geht es über festes Blockwerk hinauf, dann queren wir, teils mit Ketten versichert, durch die Schrofenhänge unter der Sassa d’Entova.

Gerade noch rechtzeitig, bevor die Wolken die Oberhand gewinnen, steht hinter einer Kurve der Piz Bernina vor uns: ein Anblick, der vor allem die Erwachsenen staunen lässt. Anneli und Jakob genießen derweil mit Knopf im Ohr ein Harry-Potter-Hörbuch und marschieren im Gleichschritt vorneweg. Es geht hinunter in einen wild-kargen Talkessel. Wo einst die Eisbrüche des Vedretta di Scerscen für Dramatik sorgten, rauschen heute zahllose Sturzbäche über nackten Fels. Der finale Hüttenanstieg fällt trotz Nieselregen zum Glück leichter als befürchtet. Das jugendliche Hüttenteam ist locker drauf und das Essen schmeckt. Doch wir frieren in der kaum geheizten Stube. Man entschuldigt sich: Das Brennholz sei knapp; so Petrus gnädig, soll der Heli bald Nachschub bringen.

Kurz vor der Forcella di Fellaria, hinten grüßt der Pizzo Malenco. Foto: Ingo Röger

Am Morgen hängen zwischen den wilden Zacken der Cime di Musella vis-à-vis der Hütte dicke Regenwolken. Ausgerechnet heute, wo die Besteigung der Punta Marinelli (3182 m) geplant ist! Der Wirt, der mit mir kritisch den Himmel beäugt, macht uns Mut: am Vormittag soll es besser werden. Tatsächlich: Nach dem ausgiebigen Frühstück sind erste Wolkenlücken zu sehen. Es geht hinauf Richtung Vedretta di Fellaria. In einem kleinen Bergsee schwimmen Eisschollen. Der Weiterweg über einen kühn ausschauenden, aber harmlosen Felsgrat ist völlig schneefrei. Ganz allein erreichen wir die Madonnenstatue am Gipfel.

Der Wolkenvorhang gibt die finsteren Wände von Piz Argient und Piz Zupó frei. Und zu Füßen liegt der beinahe spaltenlose Gletscher.

Nebelschwaden wabern umher. Dann blitzt die Sonne durch. Der Wolkenvorhang gibt die finsteren Wände von Piz Argient und Piz Zupó frei. Und zu Füßen liegt der beinahe spaltenlose Gletscher. Auf dem Rückweg müssen wir einen kurzen Abstecher machen. Jakob will wissen, wie sich so ein Gletscher anfühlt – und ist erstaunt, wie griffig und rau das Eis ist. Endlich wärmt die Sonne. Und die nächste Hütte liegt nur eine gute Wegstunde entfernt. Auf dem zauberhaften Rifugio Carate Brianza sind wir die einzigen Gäste. Die gemütliche Gaststube hat eine Kuschelecke mit Kamin. Ganz klar: Diese Hütte ist unser Favorit. Erst recht, als nach einem Regenguss eine Gruppe Steinböcke völlig ungestört vor den Fenstern grast.

Dramatische Szenerie: Eisbrüche des Vedretta di Fellaria Orientale. Foto: Ingo Röger

Der Weg über die Forcella di Fellaria zum Rifugio Bignami ist kaum länger. An der Scharte wäre der Sasso Moro mit seinen knapp über dreitausend Metern eine weitere Gipfeloption, doch so richtig einladend sieht der Schotterberg nicht aus. Da hören wir lieber auf den Hüttenwirt und turnen morgens über einen hübschen Steig auf den Monte delle Forbici (2910 m). Der Wirt hatte recht – auch wenn es kein Dreitausender ist, das Panorama haut einen um! Unter einem wolkenlosen Himmel stehen Piz Roseg, Piz Scerscen und Piz Bernina Spalier. Im Süden geht der Blick zweieinhalbtausend Meter hinab ins mediterrane Veltlin. Lautlos umkreist ein Bartgeier den Gipfel. Auf der Alpe Fellaria, oberhalb eines azurblauen Speichersees, picknicken unzählige Familien. Halb Italien scheint unterwegs zu sein.

Weißblau schimmert die frische Abbruchkante und zwei Gletschertore schauen uns wie dunkle Augen an.

Auch uns zieht es zum Fellaria-Gletscher, eine Wegstunde oberhalb des Rifugios. Die Zeit ist schon fortgeschritten und die Tagesgäste kommen uns in Scharen entgegen. Als wir die letzte Moräne überqueren, verschlägt es uns den Atem. Der Gletschersee liegt glitzernd in der Nachmittagssonne. Am Ufer grast ein Dutzend Steinböcke. Das hintere Ende des Sees wird von einem Eisbruch ausgefüllt. Weißblau schimmert die frische Abbruchkante und zwei Gletschertore schauen uns wie dunkle Augen an. Dahinter erhebt sich eine Felswand, auf der ein weiterer Eisbruch thront. Wie dünne Fäden stürzen mehrere Wasserfälle herab. Daneben poltern immer wieder Eisbrocken herunter, die auf dem Gletscher zerbersten.

Auf der Alpe Prabella grasen Ziegen unweit des Rifugio Cristina. Foto: Ingo Röger

Der Weg zur letzten Unterkunft, dem Rifugio Cristina auf der Alpe Prabello, ist mit vierzehn Kilometern die längste Etappe. Jakob kann sich kaum von den Hühnern, Hunden, Ziegen, Kühen, Eseln und Katzen auf der Alpe trennen. Heute kehren wir den ganz hohen Bergen den Rücken und laufen hinab zum zauberhaften Lago di Alpe Gera. Dann geht es gemütlich das langgezogene Val Poschiavina hinauf. Am Passo Campagneda markiert ein hölzerner Torbogen die Grenze zwischen dem italienischen Valmalenco und dem schweizerischen Puschlav.

Die bezaubernde Alpe Prabello breitet sich unter der Westwand des Pizzo Scalino aus. Die einladende Hütte ist der Blickfang dieser gepflegten Almsiedlung. Ein klares Bächlein mäandert über die üppiggrüne Wiese. Auf einer Felskuppe posiert eine schicke Kapelle. Die warmen Strahlen der tiefstehenden Augustsonne streicheln über das Gras. Für uns heißt es morgen Abschied nehmen vom Valmalenco, jenem Tal, das uns auf so vielfältige Weise begeisterte.