Blick über zugefrorenen See mit Tannen und roter Holzhütte am Ufer
Der Harzer Hexenstieg führt an zahlreichen, mitunter spektakulär gefrorenen Stauseen vorbei – hier bei Buntenbock. Foto: Romy Robst
Winterwunderland Harz

Immer der Hexe nach

Müssen es immer die Alpen sein? Im Winter bestimmt nicht. Da präsentieren sich die deutschen Mittelgebirge nämlich von einer ganz anderen Seite als im Sommer. Meist stiller. Oft anspruchsvoller. Vor allem aber überraschend schön.

Das Thermometer zeigt minus 13 Grad. Der Wind fühlt sich auf meinen Wangen an wie tausende kleine Nadelstiche. Meine Wimpern sind wie die Tasthaare um die Schnauze meiner Hündin vor Kälte weiß gefroren. An den Bahnhofslaternen hat sich in Windrichtung zentimeterdickes Eis gebildet, das wie eine Fahne die Metallpfosten ziert. Die um uns herumstehenden Kiefern sind unter der Last von Schnee und Eis in die Knie gegangen. Sie bilden merkwürdige Formationen, die ihnen auch den Namen „Krüppelkiefern“ beschert haben. Immer wieder ziehen Zuckerwattewolken vorbei. Unten im Tal wabert dicker Nebel, während hier oben die Sonne strahlt. Freilich, wärmen tut sie Ende Januar nicht sonderlich. Nein, diese magische Szenerie spielt sich nicht auf einem alpinen Gipfel ab. Der Berg, dem man ein isländisches Klima nachsagt, misst nur 1141 Meter und markiert die höchste Erhebung des nördlichsten Mittelgebirges Deutschlands.

Nostalgie und fragwürdige Schönheit auf dem Brocken

Der Gipfel des Brocken ist ein Besuchermagnet. Ihn und den umliegenden Nationalpark Harz besuchen jährlich rund 1,75 Millionen Menschen. Manche kommen mit dem Zug, denn hier thront knapp unterhalb des Gipfelfelsens ein eigener nostalgischer Bahnhof. Die berühmte Harzer Schmalspurbahn taucht oft mystisch wie Harry Potters Hogwarts-Express dampfend und tutend aus dem dicken Nebel auf, um die Endstation zu erreichen. Viele kommen aber auch zu Fuß. So wie ich. Mein dritter Tag auf dem Harzer Hexenstieg, dem bekanntesten Weitwanderweg im Harz, führt mich auf den Brocken. Dabei ist der Berg mit seiner kahlen Kuppe, dem Turm und einer Radarkuppel wahrlich keine Schönheit, aber der höchste Berg eines Gebirges hat eben immer auch seinen eigenen Reiz.

Aufgrund der exponierten Lage herrscht hier ein Klima, vergleichbar mit einem alpinen Gipfel um die 2000 Meter. Immerhin zeigt sich der Berg an durchschnittlich 178 Tagen im Jahr im weißen Gewand. Für viele Menschen aus dem Osten Deutschlands hat der Berg darüber hinaus eine besondere Bedeutung: 1949 wurde er an die Sowjetische Besatzungszone übergeben und 1961 zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Eine Sperrmauer wurde errichtet und der Brocken blieb für die Bevölkerung jahrelang unerreichbar. Er wurde für Spionagezwecke seitens der Staatssicherheit der DDR und UdSSR genutzt. Nach dem Mauerfall 1989 wurde der Brocken nach Protesten von rund 6000 Menschen wieder für die Allgemeinheit geöffnet. Seither hat man den Berg – selbst bei arktischen Bedingungen – nie für sich allein. Von touristischer Übernutzung ist an diesem Tag aber nichts zu spüren. Es ist schließlich noch früh am Morgen, als ich den Gipfel erreiche. Die Inversionswetterlage, die mir das herrliche Wolkenschauspiel bei strahlendem Sonnenschein beschert, hält leider nicht lang. Der blaue Himmel hüllt sich rasch wieder in ein undurchsichtiges Weiß und die schwachen Sonnenstrahlen sind für den Rest des Tages verschwunden.

Dann zeigt der Brocken wieder sein wahres Gesicht. Immerhin beeindruckt er mit durchschnittlich 300 (!) Nebeltagen im Jahr.

Auch aus meiner Erfahrung von vielen Brockenbesuchen weiß ich, wie besonders dieser sonnige Moment hoch oben auf dem höchsten Berg Sachsen-Anhalts war. So laufe ich trotz Kälte beschwingten Schrittes wieder hinab. Wenige Höhenmeter später hat uns der winterliche Wald zurück. Die Tannen rechts und links neben uns sind von einer zehn Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Neben dem Weg versinken wir bis zu den Knien im kühlen Weiß. Ich kann nicht widerstehen und mache einen großen Schneeengel in die weiße Pracht. Wer es zulässt, kann gerade im Winter seinem inneren Kind eine große Freude machen.

Wintersportzentrum Nummer eins

Mittelgebirge sind besonders im Winter eine Reise wert. Nur wenige andere Menschen zieht es zum Wandern und Skitourengehen in die verschneiten Wälder. Die dicke Schneedecke schluckt so ziemlich alle Geräusche der urbanen Zivilisation. Manchmal schweben zarte Schneeflocken lautlos zu Boden. Selbst das Plätschern der typischen kleinen Harzer Wasserkanäle ist erstarrt. Stattdessen hängen mannshohe Eiszapfen von den Felsen. Der Harzer Hexenstieg ist zwar kein ausgewiesener Winterwanderweg, aber die Wege werden oft genug begangen, sodass eine Wanderung meist ohne große Kraftanstrengung möglich ist. Grundsätzlich ist der Winter im Harz ein zuverlässiger Gast und das kleine Mittelgebirge ist das Wintersportzentrum Nummer eins im Norden Deutschlands. Neben Loipen und Skiwanderwegen, die allein im Nationalpark Harz etwa zweihundert Kilometer ausmachen, findet sich auch ein ausgedehntes Netz an Winterwanderwegen.

Ob Langlaufen, Winterwandern oder Eisklettern – im Harz ist fast alles möglich. Foto: Romy Robst

Die Schneefallmengen im Harz variieren in den letzten Jahren allerdings sehr stark. So wechseln sich anhaltend warme Winter mit geringen Niederschlägen mit Wintern ab, die zuweilen sensationelle Schneemengen mit sich bringen. Vor allem im Oberharz auf Höhen jenseits der fünfhundert Meter kann man ab Dezember aber einigermaßen sicher mit Schnee rechnen. Vielseitig talentierte Winterfans haben damit die Qual der Wahl: Soll es eine Skitour auf den Brocken sein? Eisklettern am Romkerhaller Wasserfall? Eine rasante Schlittenfahrt auf einer der vierzig Rodelbahnen und -hängen? Oder eben doch eine winterliche (Mehrtages-)Wanderung?

Norwegisches Flair zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt

Als ich schließlich drei Tage später Thale, das Ziel des Harzer Hexenstiegs, erreiche, bin ich voll mit traumhaften Eindrücken. Hinter mir liegen hundert Kilometer reinstes Wandervergnügen. Von Osterode im Westen des Harzes bis nach Thale im Osten quert der Weitwanderweg fast den ganzen Höhenzug. Die Strecke verläuft zunächst entspannt von Osterode am westlichen Harzrand bis nach Buntenbock. Am zweiten Tag kann es bei winterlichen Bedingungen schon anstrengender werden. Immerhin wollen 25 Kilometer und einige Höhenmeter bezwungen werden. Landschaftlich reizvoll ist vor allem der Wegabschnitt entlang des Wasserleitsystems Oberharzer Wasserregal. Der dritte Tag führt nicht nur zum Brocken, sondern steht auch ganz im Zeichen des Nationalparks Harz.

Hier geht es nach Sachsen-Anhalt in den Ostharz. Statt Nadelwäldern finden sich nun ausgedehnte Laubwälder. Hier teilt sich der Hexenstieg erneut. Entweder wählt man die Nordroute über Rübeland mit seinen Tropfsteinhöhlen oder die Südroute über Hasselfelde. Die letzten 13 Kilometer auf der Wintervariante des Weges sind trotz Wintersperrung des romantischen Bodetals lohnenswert und führen auf schmalen Wegen hinauf zum berühmten Hexentanzplatz. Der Harz als nördlichstes, aber sehr kleines Mittelgebirge ist ein Paradebeispiel für die Vielseitigkeit des Winters in den Mittelgebirgen. So gibt es norwegisches Flair an den vielen zugefrorenen Stauseen mit niedlichen bunten Holzhäusern, zugefrorene Bachläufe und imposante Eis-Wasserfälle. Die im Sommer oft dunklen Nadelwälder strahlen freundlich in ihrem weißen Gewand, während im Osten des Harzes aussichtsreiche Wege durch die Laubwälder führen, wenn das Blattwerk nicht mehr die Sicht versperrt.

Mir persönlich bleibt besonders ein fantastischer Sonnenuntergang auf einer typischen Harzklippe in Erinnerung, ebenso wie ein besonderer Moment am Entensumpf. Dort warf die tiefstehende Sonne zarte Sonnenstrahlen durch die Bäume, die der See reflektierte. Auch das Nebelmeer auf dem Brocken ist eines dieser vielen Geschenke, die der Winter bereithält. Das größte jedoch ist die tiefe Ruhe und Entspannung, die ein solches kurzes Winterabenteuer mit sich bringt. Das laute Rauschen im Kopf, das mich an einem hektischen Arbeitstag stets begleitet, wird bei einer solchen Wanderung genauso wie die imposanten Baumriesen einfach zugeschneit. Wer einmal auf den Geschmack einer winterlichen Mehrtagestour gekommen ist, wird sich die Frage stellen, warum er es vorher nie gemacht hat.

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