Skifahrer auf steiler Abfahrt mit Blick über schneebedeckte Alpen
Bei der Gipfelabfahrt vom Hohen Göll bietet sich eine tolle Aussicht auf Hochkönigstock und Steinernes Meer. Foto: Michael Pröttel
Skitouren in den Berchtesgadener Alpen

Watzmanns Kinder und die Große Reibn

Irschenberg, Rosenheim und dann der Chiemsee. Auf der Anreise nach Berchtesgaden zieht das grüne Alpenvorland an uns vorbei. Eigentlich ein sehr schöner Anblick. Wäre da nicht die Jahreszeit. Schließlich ist es Mitte Februar und nicht Mitte Mai. Wie so oft in den letzten Jahren müssen wir akribisch recherchieren, um Skitourenziele zu finden, die bei einem solchen „Nicht-Winter“ wie 2022 überhaupt möglich sind.

Auf der Suche nach dem „Weißen Gold“ ist es immer eine gute Idee, Ziele mit möglichst hoch gelegenem Start zu wählen, wie beispielsweise in den Berchtesgadener Alpen. Ganz unten im Tal an der Ramsauer Ache waren wir noch recht skeptisch. Aber tatsächlich liegt am Ausgangspunkt zum Hohen Göll auf 1100 Metern über Normalnull ausreichend Schnee. Und das hat sich natürlich herumgesprochen. Wir sind an diesem strahlenden Sonntag beileibe nicht die Einzigen, die voller Vorfreude auf die kommenden eineinhalb Vertikalkilometer ihre Felle aufziehen.

Steil geht's die letzten Meter auf den Hohen Göll hinauf. Foto: Michael Pröttel

Eines ist klar: Wadlschmalz darf nicht fehlen, wenn man das Gipfelkreuz erreichen will. Und im engen Alpeltal wird kurze Zeit später deutlich: Harscheisen dürfen heute ebenfalls nicht fehlen. Das liegt nicht an einer hartgefrorenen Schneeoberfläche, sondern an unzähligen Skikanten, die das eng eingeschnittene Tal in eine harte „Touren-Piste“ verwandelt haben. Dafür herrschen sichere Lawinenverhältnisse und auch die erste Schlüsselstelle macht keine Probleme. Die Seilversicherungen einer Steilstufe sind (noch) nicht unter dem Schnee vergraben. Eher unangenehm dagegen sind die Eisnadeln, die der kalte Fallwind uns ins Gesicht weht. Und dann kommt er. Der immer grandiose Moment, wenn es aus einer schattigen Steilstufe endlich in die Sonne geht. Markante Kalkfelsen begleiten den nun flacheren Weg durch einen gewaltigen Bergkessel westlich des Hohen Göll. Dann geht es wieder steil hinauf und zum Schluss mit ausreichendem Abstand zu einer Mega-Wechte zum Gipfelkreuz hinauf. Wir sind uns einig: Der große Bergkristall in dessen Mitte passt sehr gut zu diesem stolzen Berg. Konsens herrscht ebenfalls darüber, dass wir beim morgigen Ziel umdisponieren müssen. Denn beim Anblick des gegenüberliegenden Watzmann sind die vielen abgewehten Felsbereiche nicht zu übersehen.

Kinder statt König

Das abendliche Kartenstudium im netten Selbstversorgerraum der Berchtesgadener Jugendherberge führt schnell zu einem Ausweichziel. Anstelle des Königs wollen wir seine Kinder besuchen, was mit einer Gesamtstrecke von 18 Kilometern ein Plus von sechs Kilometern im Vergleich zum ersten Tag mit sich bringt. Aufgrund der nordseitigen Exposition können wir auch am 800 Meter hoch gelegenen Ausgangspunkt Hammerstiel gleich die Ski anschnallen. Es folgen zwei gemütliche Eingehstunden, die erst am Südende des Schappachbodens von einem steileren Waldanstieg abgelöst werden. Hinter den letzten Bäumen öffnet sich das Watzmannkar und mit ihm unsere staunenden Münder. Was für ein Anblick!

Traumabfahrt von den Watzmannkindern. Foto: Michael Pröttel

Im deutschen Alpenraum gibt es nur sehr wenige Hochtäler, die von so gewaltigen Felswänden eingerahmt sind. Wir haben jetzt die Qual der Wahl zwischen Kind drei, vier oder fünf. Wir wählen den vorletzten Nachwuchs und sind so begeistert, dass wir nach einer unverspurten Abfahrt auch noch Kind Nummer drei unter die Felle nehmen. Was am Ende des grandiosen Skitages in der Summe stolze 1800 Höhenmeter ergibt.

Auf der Reibn

Beim Thema „Skitouren im Großformat“ rund um den Königssee darf die „Große Berchtesgadener Reibn“ natürlich nicht fehlen. Da wir auf die Starthilfe Jennerbahn verzichten, liegen am Talboden von Schönau 53 Skitourenkilometer und 4200 Höhenmeter vor uns. Ein waschechter Skitourenmarathon sozusagen.

Erster Zwischenstopp auf der Großen Reibn: das Carl-von-Stahl-Haus. Foto: Michael Pröttel

Die Gaststube ist gut gefüllt, als wir nach dem Hüttenzustieg das Carl-von-Stahl-Haus erreichen. Freudiges Zuprosten, erregte Debatten und eine Luftfeuchtigkeit, die der aus den Krug-Inhalten kaum nachsteht. Minirucksäcke und Stirnlampen machen klar, dass die Anwesenden nur wegen eines sportlichen Feierabendbieres aufgestiegen sind. Der Hüttenwirt bestätigt, dass wir morgen auf der langen Etappe zum Kärlingerhaus wohl allein unterwegs sein werden. Zudem seien die Letzten vor einer knappen Woche unterwegs gewesen. Na dann viel Spaß beim Spuren!

Naturverträglich Skitouren- und Schneeschuhgehen

Die Skitouren verlaufen überwiegend im Nationalpark Berchtesgaden, dort bitte zum Schutz der Natur die üblichen Routen einhalten! Zudem sind einige Wald-Wild-Schongebiete zu beachten. Im Rahmen des DAV-Projektes „Skibergsteigen umweltfreundlich“ wurden die Tourenverläufe optimiert, örtlich gibt es Informationstafeln. Die AV-Karte BY 21 „Nationalpark Berchtesgaden“ bildet die im Beitrag beschriebenen Skirouten und die Wald-Wild-Schongebiete der Region ab.

Beim frühmorgendlichen Aufstieg zum Schneibstein ziehen entgegen der Wetterprognose graue Wolken auf. Bleibt zu hoffen, dass angesichts des vor uns liegenden Hagengebirges mit seinen unzähligen Mulden und Kuppen die Wolkenuntergrenze nicht zu tief absinkt. Bis zur Windscharte ist die Wegfindung aufgrund der Spuren und Stangen der viel häufiger begangenen „Kleinen Reibn“ kein Problem. Auf dem darauffolgenden Abschnitt zum Jägerbrunnentrog wird unser Orientierungsvermögen jedoch auf eine harte Probe gestellt. Diffuses Licht lässt Dolinen, Bodenwellen, Bergrücken und Gräben miteinander verschmelzen. Auch ohne Nebel kommen wir immer wieder vom kürzesten Weg ab. Mehr als einmal rätseln wir, welche Bergkuppe als nächste anzusteuern ist. Nach mehr als vier Stunden lässt die Anspannung nach. Wir haben die entscheidende Einfahrt in den Eisgraben gefunden. Die erste gescheite Abfahrt des heutigen Tages. Und dazu die Gewissheit: Wir haben zwar erst die Hälfte der Strecke, dafür aber den – was die Orientierung angeht – schwersten Teil hinter uns. Auf dem Gegenanstieg über die wirklich „Lange Gasse“ werden die Oberschenkel schwerer und schwerer. Niemand hat Einwände, als Thomas vorschlägt, auf den optionalen Gipfel Funtenseetauern zu verzichten.

Markant ragt das vierte Watzmannkind in der Mitte des Watzmannkars auf. Foto: Michael Pröttel

In einer langen Querung umgehen wir den markanten Wildalmrotkopf und haben an der Niederbrunnsulzen-Scharte den ersten Tag so gut wie im Rucksack. Über schöne, freie Hänge wedeln wir in gutem Pulver zum Kältepol Deutschlands hinab. An Heiligabend 2001 wurde direkt am Funtensee, neben dem das Kärlingerhaus liegt, ein Kälterekord von minus 45,9° C erreicht. Das ist die bisher niedrigste, in Deutschland aufgezeichnete Bodentemperatur.

Das Gefühl, Großes geleistet zu haben

Umso wärmer ist es keine Stunde später im heimeligen Winterraum. Das Kiefernholz knistert im Ofen, der mitgeschleppte Rotwein bekommt langsam Trinktemperatur und wir drei sind stolz wie Bolle. Laut Hüttenbuch hat kein geringerer als Alexander Huber zwei Tage zuvor hier eingeheizt. Die letzten Sterne funkeln am Himmel, als wir das Kärlingerhaus in seiner vollkommenen Wintereinsamkeit verlassen. Trödeln gilt trotzdem nicht. Für heute ist ein markanter Wettersturz angesagt. Außerdem: 1100 Höhenmeter und 21 Kilometer Strecke sind kein Sonntagsspaziergang. Auf dem langen Anstieg zur Hundstodscharte fällt das Spuren im festgepressten Windharsch leichter als am Vortag. Zügig bewältigen wir den vorletzten Anstieg und die anschließende Querung zum Dießbachegg, wo uns der Atem stockt. Hinter der letzten Kuppe hängt ein pechschwarzer Vorhang über den Loferer Steinbergen. Nichts wie runter mit den Fellen und in den tief unter uns gelegenen Hochwieskessel. Der beinhart gefrorene Riesenhang beschert zwar keinen Pulvergenuss, dank messerscharfer Skikanten aber einen nicht unbedeutenden Zeitgewinn. In Windeseile fellen wir unten wieder an und steigen in bereits dichtem Schneefall zur Kematenschneid auf. Dort wird sich zeigen, ob wir im Nebel die Wimbachscharte und somit die Einfahrt in den Loferer Seilergraben finden.

Mangels Schnee heißt es Ski tragen zum Finale der Großen Reibn. Foto: Michael Pröttel

Bergrücken haben die Angewohnheit, dass man – auf ihnen angekommen – nur rechts oder links gehen kann. Wir entscheiden uns für die erste Möglichkeit und stochern vorsichtig entlang des schmalen Rückens nach Norden. Plötzlich reißt der Nebel auf. Der Wegweiser an der Wimbachscharte ist nicht zu übersehen. Mit dem Gefühl etwas Großes gemeistert zu haben, fahren wir in den Loferer Seilergraben ein. Und freuen uns etwas zu früh. Denn der Talboden ist schneefrei. Es folgt somit ein standesgemäßes Finale: Acht Kilometer Ski tragen zur Wimbachbrücke, dem Ziel der „Großen Berchtesgadener Reibn“.

Toureninfos:

Hoher Göll: 6 Std., 1450 Hm, 12 km, Start/Ziel: Hinterbrand (1130 m)

Watzmannkinder: 6 ½ Std., 1500 Hm, 18 km, Start/Ziel: Hammerstiel (766 m)

Große Berchtesgadener Reibn: 17 Std., 4200 Hm ↗, 4300 Hm ↘, 53 km (ohne Seilbahnbenutzung); mit Seilbahn: 3200 Hm ↗, 4300 Hm ↘, 47 km, Start: Bergstation Jenner (1780 m), Ziel: Wimbachbrücke (650 m)

Kleine Berchtesgadener Reibn: 5 Std., 781 Hm ↗, 1940 Hm ↘, 16 km, Start: Bergstation Jennerbahn (1780 m), Ziel: Talstation Jennerbahn (650 m)

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