Nicholas Perreth.
Nicholas Perreth. Foto: Frischluft Film
Eigene Wege gehen - Spüre dich selbst

"... ich hab irgendwie angefangen, die Berge mit Freiheit zu assoziieren"

In einem Interview erzählt Parakletterer Nicholas Perreth, wie ihn viele Krankenhausaufenthalte dazu inspiriert haben, in die Berge zu gehen und wie sich so sein Leben geändert hat.

Über

Nach einer Krebserkrankung und zehnjährigen Folgebehandlungen hat sich Nicholas Perreth (38) im Jahr 2014 dazu entschlossen, sein rechtes Bein amputieren zu lassen. Ein Schritt, den er als Befreiung beschreibt. Seither probiert er sich wieder in unterschiedlichsten Sportarten aus und ist viel in den Bergen unterwegs. Weil ihn auch das Boulder- und Klettervirus gepackt hatte, klopfte er 2017 beim Paraclimbing-Team an und klettert seither in der Nationalmannschaft bei internationalen Wettbewerben.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Es ist halb elf – heute schon geklettert? Oder gönnst du dir gerade noch ein wenig Müßiggang nach den zurückliegenden internationalen Wettkämpfen, bei denen du im Paraclimbing-Team gestartet bist?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Ich bin ja zuletzt beim World Cup und bei der Weltmeisterschaft angetreten. In den vier Monaten davor hab ich mehrmals die Woche ganz intensiv trainiert, bin immer nur klettern gewesen. Tatsächlich hab ich jetzt erst mal drei, vier Wochen Pause gebraucht. Ich war ganz wenig klettern, stattdessen viel in den Bergen unterwegs, auch mit dem Mountainbike. Ich brauchte einfach ein bisschen Kontrast; das geht nach den Wettkämpfen tatsächlich vielen von uns so. Jetzt ist die Motivation wieder da und ich hab auch wieder Bock zu klettern.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Und wettkampftechnisch hast du auch schon wieder ganz konkrete Ziele?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Im nächsten Jahr würde ich schon gerne mal ins Finale klettern, auf dem Worldcup oder so. Dafür muss ich kontinuierlich meine Ausdauer trainieren. Auch in diesem Jahr war es eigentlich mein Ziel, in die Top Ten zu kommen, aber ich hab‘s in einer der Quali-Touren vergeigt. Wenn es also nächstes Jahr klappen würde, wäre ich mehr als zufrieden, zumal bei der starken Konkurrenz.

Nicholas bei den Masters in Uster. Foto: Nicholas Perreth
ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Du spielst auch auf die unterschiedliche Klettererfahrung bei den Paraclimbern an?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Ja, wir haben ja unter sehr unterschiedlichen Bedingungen mit dem Klettern angefangen. In meiner Wertungskategorie zum Beispiel, AL2, was die Beinamputierten sind, gibt es einige, die klettern schon ihr ganzes Leben, und zwar richtig gut. Sie hatten dann irgendeinen Unfall, haben sich zurückgekämpft, treten jetzt eben als Paraclimber an; die klettern mitunter eine 8a oder 8b im Vorstieg am Fels. Das Niveau ist schon extrem hoch. Ich selbst habe erst als Erwachsener mit dem Bouldern und Klettern begonnen.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

… nach deiner Beinamputation also?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Genau, als Jugendlicher und junger Erwachsener hab ich hobbymäßig Basketball und Fußball gespielt, bin Skateboard gefahren.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Was ist dann passiert?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Als ich 19 war, ist durch Zufall ein Tumor in meiner rechten Beckenschaufel entdeckt worden. Für mich war von Anfang an klar: ich will wieder fit werden. Was die Behandlungen anging, da hab ich direkt den Ärzten vertraut und bin in die Chemo gestartet. Nur: es kamen immer neue Probleme dazu - mal kugelte die Hüfte aus, mal hatte ich enorme Entzündungswerte. Ich hab mich also von Baustelle zu Baustelle gehangelt, hatte viele Operationen; das ging so zehn Jahre lang. Zum Schluss war das Bein zwar dran, aber eigentlich ohne Funktion. Im Grunde störte das Bein nur noch, behinderte mich. Irgendwann überlegte ich: Möglicherweise nie wieder Sport machen zu können, nur ein bisschen spazieren zu gehen, das ist nichts für mich. Da hatte ich dann den Gedanken: Was wäre denn, wenn das Bein ab wäre?

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Und die Idee hast du dann den Ärzten unterbreitet?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Ja, und es blieb dabei: ich hab nur Vorteile gesehen. Ich hätte zwar nur noch ein Bein, könnte aber im Grunde wieder ganz normal leben … und bin nicht mehr behindert! So ist es also gekommen und im August 2014 war die Amputation. Als die OP heranrückte, habe ich mich voll auf den Termin gefreut. Ich dachte damals: Alles ist okay, das wird richtig gut. Und wirklich: es war die totale Befreiung!

Nicholas am Graischenstein im Betzensteiner Gebiet. Foto: Christian Seitz
ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Damals hast du in Nordrhein-Westfalen gelebt. Was brachte dich näher an die Berge?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Während meiner vielen Krankenhausaufenthalte war natürlich auch oft der Fernseher eingeschaltet. Es kam dann, dass ich während des Frühstücks immer diese Bergpanoramen sah, wo also die Bergbahnen gezeigt werden und wo du mitbekommst, wie das Wetter auf den ganzen Bergstationen ist. Das fand ich total toll und ich hab irgendwie angefangen, die Berge mit Freiheit zu assoziieren. Wenn ich zwischen den OPs und Rehas gerade mal fitter war, habe ich dann immer wieder versucht, in den Bergen Urlaub zu machen. Das hat mir extrem gut gefallen und gut getan. Später entstand dann der Wunsch, beruflich etwas zu machen, wo ich mit Sport und vielleicht auch mit Menschen zu tun hätte. So kam ich auf Sport- und Fitnesskaufmann und wollte dafür näher an die Berge ziehen. München ist’s geworden.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

… deine Ausbildung hast du im Kletter- und Boulderzentrum des DAV in Thalkirchen gemacht, heute arbeitet du in der Boulderwelt Ost.

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Die Kombi hat mir getaugt: die kaufmännische Komponente der Ausbildung sah ich als wichtig für später; also dann, wenn ich vielleicht nicht mehr so fit sein sollte. Dann kann ich büromäßig was machen. Aber bis dahin, so meine damalige Überlegung, könnte ich erst mal ein bisschen was Aktives machen, wo ich dann auch mit Menschen zu tun habe. Mein aktueller Job ist also einerseits der Bürojob, wo ich mich um allerlei Sachbearbeitungen wie die Bestellung von Hygieneartikeln oder Vorräten für das Café kümmere. Und drei Mal pro Woche habe ich ganz normale Thekenschichten, wo ich Kaffee mach, die Leute einchecke... Das finde ich eine super schöne Mischung.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Trägst du bei deiner Arbeit am Tresen eine Prothese?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Nee, ich bin einfach nur mit Krücken unterwegs. Das geht super.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Ist das bei dir eine grundsätzliche Entscheidung gegen die Prothese?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Sagen wir so: ich habe eine Prothese. Ich habe sie aber seit sechs Jahren nicht mehr genutzt. Das ist eigentlich ein ganz cooles Hightech-Teil mit elektronischem Kniegelenk und allem. Für Leute, die nicht fit genug sind, um lange mit Krücken zu laufen, ist so eine Prothese im Prinzip eine Erweiterung von dem, was sie machen können. Aber für mich ist’s genau andersrum. Schon direkt, als das Bein ab war, hatte ich alles Mögliche gemacht, um fit zu werden: ich hab mich ins Kung-Fu reingehängt, hab viel im Fitnessstudio trainiert, mit Bouldern angefangen, irgendwann mit Klettern. Das alles hat mich gekräftigt und inzwischen bin ich so gut mit Krücken unterwegs, dass ich mich mit Prothese eher eingeschränkt fühle.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

Apropos „eingeschränkt“… gibt es aus deiner Sicht Fettnäpfchen, was die richtige Wortwahl angeht, um eine Behinderung zu benennen?

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Ich lege gar keinen großen Wert auf so Feinheiten. Es ist mir egal, ob irgendwer „behindert“ oder „mit Einschränkung“ oder sonst wie sagt... dadurch fühle ich mich nicht diskriminiert. Ich habe eher das Gefühl, dass sich die Gesellschaft viel zu viele Gedanken darüber macht: Was können wir jetzt sagen; was können wir nicht sagen? Viele fassen uns dann mit Samthandschuhen an. Dabei machen wir doch alles ganz normal.

ormo_nadine.jpg Nadine Ormo

… du sagtest ja vorhin: du fühlst dich nicht behindert.

Nicholas Perreth. Nicholas Perreth

Genau. Natürlich hast du auch deine körperlichen Einschränkungen, die gewisse Sachen limitieren. Aber ich kenne so viele gehandicapte Leute, die krasses Zeug machen. Andererseits gibt es genügend Leute, die zwei Arme und zwei Beine haben und trotzdem behindert sind in dem Sinne, dass sie sich selber limitieren und nicht an die eigenen Fähigkeiten glauben. So gesehen sind die meisten Einschränkungen oder Behinderungen einfach im Kopf.

Der DAV und Bergader – aktive Partnerschaft seit 2020

Aufbrechen und eigene Wege gehen ist Teil der Kampagne „Spüre dich selbst“, die der DAV gemeinsam mit seinem Partner Bergader ins Leben gerufen hat, um für einen achtsamen und gesundheitsorientierten Lebensstil zu sensibilisieren.

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