Auf der Flamma in Bergell
Auf der Flamma in Bergell. Foto: Silvan Metz
Alpenvereinsjahrbuch "BERG 2022"

"In den Bergen sind wir frei"

Freiheit - ein Begriff, mit dem wir wahrscheinlich erstmal alle etwas anfangen können. Doch frägt man einmal genauer nach, wird schnell klar, dass jede*r womöglich eine eigene Definition dafür besitzt. Für manche ist es die Möglichkeit etwas tun zu können, für andere die Freiheit von Einschränkungen und für wieder andere vor allem das Recht auf Selbstbestimmtheit. Grundsätzlich stellt sich jedoch immer die Frage: Wo fängt Freiheit an und wo hört sie auf? Bergbegeisterte sind sich hier oftmals einig: "In den Bergen sind wir frei" - doch wie fühlt sich diese Freiheit an? Warum finden wir sie genau im Gebirge? Und sind wir in den Bergen tatsächlich frei oder unterliegen wir auch hier bestimmten Zwängen? Wir haben einmal nachgehakt und haben Antworten von verschiedenen Bergmenschen für euch.

"Dieser vollkommene Fokus"

Den Kopf frei bekommen, alles vergessen und gleichzeitig fokussiert und voll konzentriert sein: Auf der einen Seite verspüre ich in den Bergen eine Freiheit, wie ich sie sonst nirgends erlebe. Egal ob an guten oder an schlechten Tagen. Egal ob mitten im Lernstress oder nach geschaffter Prüfung. Die Berge sind für mich ein Ort des Wohlfühlens, quasi ein zweites Zuhause. Ein Kraftplatz, um Energie zu tanken, das Leben zu genießen und eine unglaubliche Leichtigkeit und Freiheit zu erfahren. Ein Ort, um den Kopf frei zu bekommen. Auf der anderen Seite kommst du bei alpinistischen Herausforderungen in den Bergen immer wieder in Situationen, die dir alles abverlangen und dich an deine Grenzen bringen. In solchen Momenten ist voller Fokus gefragt. Alles muss funktionieren, jeder Schritt. Bereits der geringste Fehler könnte das Ende der Freiheit bedeuten. Der Kopf ist voll. Voll mit Wissen, voll mit Gedanken, voll mit Handlungsstrukturen. Ist das die wirkliche Freiheit? Führen diese Situationen, dieses Leben am Limit und die Herausforderungen, für welche du deine Grenzen überschreiten musst, wirklich zu Freiheit? Vielleicht ist es gerade dieser vollkommene Fokus, der uns alles andere vergessen lässt. Im Grunde ist in dieser Freiheit auch eine gewisse Unfreiheit und ein Ausgesetztsein gegenüber den Naturgewalten inkludiert. Diese Mächte haben das Potential uns zu zeigen, wie winzig und verletzlich wir als Menschen in dem System der Schöpfung sind. Doch irgendwie ist es genau dieses Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten, welches die Freiheit am Berg ausmacht: das Gefühl, den Kopf frei zu bekommen, alles sonst Belastende hinter sich zu lassen, und dennoch dieser volle Fokus. Die Machtlosigkeit gegenüber der Natur und dennoch die Fähigkeit, diese Herausforderungen immer wieder zu überwinden und am Ende eines erfolgreichen Bergtages wieder sicher im Tal angekommen zu sein. Vielleicht ist es gerade dieses Zusammenspiel zwischen „frei“ und „voll“ sowie zwischen Freiheit und Unfreiheit, das die Erlebnisse in den Bergen so besonders macht.

Hanna Löberbauer. Foto: R. Waldner

Hanna Löberbauer, Jahrgang 1998, aufgewachsen am Mondsee in Oberösterreich, studiert Sportwissenschaft sowie Lehramt Sport und Geographie in Innsbruck. Seit 2020 Teil des Junge Alpinisten Teams des ÖAV.

"Frei fühle ich mich in den Bergen eher selten"

Vorausschicken möchte ich, dass ich normalerweise die großen und oft missbrauchten Begriffe des Lebens, wie Liebe, Freiheit, Heimat, in meinem Sprachgebrauch tunlichst vermeide und sie dafür zu beschreiben versuche, um sie zu befreien aus der schwammigen Hülse, in der sie oft stecken. Frei fühle ich mich in den Bergen eher selten. Viel mehr bin ich gefangen von den selbst gestellten Aufgaben, die bis zur Besessenheit wachsen können – gefangen auch von den Verantwortungen, die diese Aufgaben bedingen und von einem Zeitplan, der ganz oft Voraussetzung für eine glückliche Rückkehr ist. Dieses Spannungsfeld, das zwischen Aufbruch und Rückkehr entsteht, macht für mich die Intensität des Bergsteigens aus. Ungewissheit, Ahnung und Hoffnung, Sorge um die Partner und um mich selbst, manchmal sogar Angst machen nicht frei, sondern maximal fokussiert und konzentriert. Wenn dann irgendwann alle Hürden überwunden, alles Unvorhergesehene gemeistert und alle Zweifel durch Gewissheit beseitigt sind, dann stellt sich jener innere Frieden ein, der eine Zeit lang frei macht von der Fülle der Aufgaben und der Intensität der Ereignisse. Dieser Zustand der „Freiheit“ stellt sich aber oft erst weit unten beim Abstieg, meistens im sicheren Tal, beim Auto, in der Hütte oder beim Zelt ein. Ich kenne aber auch eine sehr extreme Form der Freiheit, eine, die ich instinktiv zu vermeiden versuche. Sie entsteht bei mir in jenen – zum Glück wenigen – Momenten, in denen der persönliche Spielraum so eng wird, dass die ganze körperliche und mentale Kraft für die Bewältigung des nächsten Schrittes, der nächsten Minute, der nächsten Stunde gebraucht wird. Dieser Moment macht frei von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft, von jeder alpinistischen Ethik und von jeder gesellschaftlichen Moral – sogar frei von Angst und Mut! Alles Leben konzentriert sich auf die animalische Lösung einer Situation. Das Erleben dieser „Anima“, dieses Kerns unserer Existenz, würde ich sogar als die absolute Freiheit bezeichnen und gleichzeitig behaupten, dass so richtig frei in Wirklichkeit keiner von uns sein will!

Hanspeter Eisendle. Foto: Archiv H. Eisendle

Hanspeter Eisendle, geboren 1956, Ausbildung zum Kunsterzieher, Bergführer, Teilnahme an mehreren Himalaya-Expeditionen, einer der besten Dolomitenkletterer mit zahlreichen Erstbegehungen. Lebt mit seiner Familie in Sterzing.

"Freiheit besteht darin, zu entscheiden"

Freiheit bedeutet für mich aufzubrechen, wohin ich will. Am liebsten in die Natur und auf Berge. Zweimal musste ich die Extremerfahrung machen, dies nicht einfach tun zu können. Das erste Mal war es nach meinem Unfall 1999 mit der Folge Querschnittslähmung, die mich zwang, meine Situation anzunehmen und langsam in die Freiheit zurückzukehren. Das zweite Mal zu Zeiten der Corona-Pandemie, die mir wieder Grenzen aufzeigt. Aber in beiden Fällen hatte ich die Wahl … zumindest im Kopf. Deshalb ist für mich die größte Lernerkenntnis, dass Freiheit vor allem darin besteht, zu entscheiden, wie ich auf Dinge reagiere und damit umgehe.

Andrea Szabadi-Heine. Foto: Archiv A. Szabadl-Heine

Andrea Szabadi-Heine, geboren 1968, Sozial- und Erlebnispädagogin, Trainerin und Beraterin für zwischenmenschliche Prozesse, seit 1999 inkomplett querschnittsgelähmt. Sie möchte einen Beitrag dazu leisten, die Welt ein bisschen bunter zu gestalten.

Mehr Stimmungen und Portäts gibt es im aktuellen Alpenvereinsjahrbuch "Berg 2022".

Freiheit im aktuellen Alpenvereinsjahrbuch "BERG 2022"

Sind die Menschen in den Bergen wirklich frei? Das neue Alpenvereinsjahrbuch "BERG 2022" beschäftigt sich mit dieser uralten und dann doch sehr aktuellen Frage – Stichworte: Corona, Overtourism, Social Media. Die Antworten der Autor*innen sind so unterschiedlich wie überraschend. Über den Themenfokus zur Freiheit hinaus bietet das Gemeinschaftswerk des Deutschen, Österreichischen und Südtiroler Alpenvereins einmal mehr eine  Mischung aus alpinen Themen – aufbereitet in außergewöhnlichen Reportagen, interessanten Porträts und packenden Bildern. Das Alpenvereinsjahrbuch 2022 ist im DAV Shop leider ausverkauft.

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