Hof bei Nacht in winterlicher Landschaft
In der Abgeschiedenheit lässt sich der Sternenhimmel in aller Ruhe genießen. Foto: Iris Kürschner
Zeitlos in Zuort

Ein Winterausflug in die Stille

Schwarz darf die Nacht hier noch sein. Und still. Kein Verkehrsgeräusch dringt ans Ohr. Wo sich Rehe treffen, Birkhühner gurren und Bartgeier kreisen, lässt sich bestens abschalten. Eine Auszeit mit wundervollen Wintertouren lockt nach Zuort im Unterengadiner Val Sinestra.

Sie reibt sich die Augen. Kein Traum. Beim Blick aus dem Fenster äsen Rehe auf der Lichtung, balzen Birkhühner vom Dickicht verborgen, aber hörbar. Ein tiefer Frieden liegt über Haus und Landschaft. Alle Gäste des kleinen Hotels waren auf Schneeschuhtour. In der Badewanne liegen und relaxen, dachte sich die frühe Rückkehrerin. Keine gewöhnliche, sondern eine englische Badewanne auf vier Messingfüßen. So, wie auch das ganze Interieur von einer anderen Zeit erzählt. Butzenfenster, antike Kachelöfen.

Im Regal die komplette Sammlung der Karl-May-Bände, Fuchsfelle auf Ohrensesseln, ein Musikzimmer mit Grammophon, das sich erst durch Ankurbeln in Gang setzt.

Kunstvoll gedrechselte Möbel. Allein in den Schnitzereien der Zimmerdecke könnte man sich verlieren. Zwei Fotoalben liegen, wie flüchtig abgelegt, auf einer Kommode. Wer darin blättert, findet entspannte Gesichter berühmter Musiker, mal mit, mal ohne den Hausherrn. Richard Strauss, Gustav Mahler und Hendrik, Prinz der Niederlande, gingen hier in der Sommerfrische von Willem Mengelberg ein und aus. Viele Bilder zeigen Kaffeekränzchen auf der ausladenden Veranda. Die Rattan-Gartenmöbel, das edle Porzellan – alles ist noch vorhanden, als seien keine 100 Jahre verstrichen.

Bewegte Geschichte

Im Jahre 1909, während eines Badeaufenthalts in Scuol, entdeckte Willem Mengelberg (1871 – 1951), gefeierter Dirigent und Komponist aus den Niederlanden und in Luzern wirkend, auf einem seiner Spaziergänge das Val Sinestra und verliebte sich in Zuort. So nennt sich die Häusergruppe um einen ehemaligen Bergbauernhof am Ende des Tals. Ein Hof, der über Jahrhunderte zugleich Zollstation und Herberge am Saumweg über den Fimbapass war. Am Fimbapass verläuft die Grenze zwischen dem Unterengadin und dem Tiroler Paznaun. Mengelberg kaufte Land oberhalb des Hofes und ließ sich nach seinen eigenen Plänen ein Chalet bauen. Es sollte ihm Rückzugsort von seiner intensiven Dirigententätigkeit sein. 1920 erwarb er den ganzen Hof und setzte als Pächter Clot Corradin aus Sent ein. Neben Bergbauer auch begnadeter Kunsthandwerker, verwandelte Corradin Zuort gemeinsam mit Schnitzern der Region in ein Kunstwerk. Dazu gehörte der Bau einer Kapelle. Deren Architektur erinnert an eine norwegische Stabskirche. In den drei kleinen Holztürmchen auf dem Schindeldach verstecken sich Glocken. Sie werden über die Klaviatur eines sogenannten Carillons, eine holländisch-belgische Spezialität, bedient. Mit der Kapelle wollte Mengelberg ein Zeichen des Danks setzen, dass die Schweiz und die Niederlande vom Ersten Weltkrieg verschont geblieben waren. Später belegten die Niederlande den Dirigenten mit einem Konzertverbot, weil Mengelberg während des Zweites Weltkrieges in seiner Tätigkeit keine Distanz zum Nazi-Regime gewahrt hatte. Sein Exil verbrachte er in Zuort, wo er im März 1951 auch verstarb. Daraufhin kümmerte sich die Mengelberg-Stiftung um den Besitz, ermöglichte mittellosen Musizierenden die Sommerferien hier. 2010 verkaufte man das Anwesen an Dr. Peter Robert Berry, jüngster Spross einer St. Moritzer Ärzte-Dynastie, der es als nostalgische Unterkunft weiter pflegt – seit 2012 das entlegenste Haus der Swiss Historic Hotels.

Im Winter ist Zuort ausschließlich zu Fuß erreichbar. Foto: Iris Kürschner

Die Kirchtürme von Zuort

Bis heute führt keine öffentliche Straße nach Zuort. Das Postauto fährt nur bis zum Dörfchen Vnà. Man könnte sich von dort mit dem Geländejeep abholen lassen. Aber warum? Wo man doch zu Fuß viel authentischer anreist. Als Winterwanderweg gespurt, erreicht die Direktroute, die sich spektakulär über der schluchtartigen Verengung des Val Sinestra entlang fädelt, in einer guten Stunde das Ziel. Noch interessanter wird es, wenn man in den Weg nach Griosch abbiegt. Eine ausgeschilderte Schneeschuhtour, die eine Stunde länger in Anspruch nimmt und durch offenes Gelände führt. Purer Panoramagenuss. Vielleicht kreist ein Bartgeier überm Kopf. In den Südflanken des Piz Tschütta nistet ein Pärchen, weiß der Wirt. Im Süden stehen die Unterengadiner Dolomiten Spalier.

Im Westen stürzt eine Geländekante in den Abgrund und man sieht auf den Talboden von Zuort. Tritt man näher an den Abgrund heran, offenbart sich ein kleines Wunder: Erdpyramiden, die wie Orgelpfeifen aus dem Hang staken. Ein nationales Kulturdenkmal.

Es erzählt von der Zeit, als noch zwei Gletscher hier zusammenflossen. Knapp unterhalb von Zuort vereinten sie sich. Über 10.000 Jahre ist das nun her. Zurück blieb Moränenmaterial, das fortan dem Wetter und der Erosion ausgesetzt war. Nur nicht dort, wo größere Gesteinsbrocken lagen. Dort blieb der Schutt geschützt und es entstanden bis zu 15 Meter hohe Kegel mit Hut. Die Einheimischen nennen sie in ihrer romanischen Sprache ils Cluchers (phonetisch: klutcheers), die Kirchtürme von Zuort. Immer wieder poltert es, dort, wo keine geschlossene Schneedecke den Brösel festhält. Wäre man in der aperen Zeit unterwegs, würde man die vielen Querrisse sehen, die die Zufahrtspiste nach Zuort jedes Jahr malträtieren. Es bedeutet ein permanentes Instandsetzen für die Ansässigen.

Tourenpotenzial

Über die „Kirchtürme von Zuort“ hinweg sieht man ins Val Laver. Skitourenerfahrene reisen von dort an. Mit den Liftanlagen von Motta Naluns, dem Skigebiet von Scuol, lassen sie sich bis zur Bergstation des Schlepplifts Champatsch hieven. Vor ihnen liegt eine Traumabfahrt von tausend Höhenmetern, erst durch den pulvrigen Nordhang des Piz Soèr, dann immer tiefer ins Val Laver hinein und zuletzt abenteuerlich durch eine enge Bachschlucht direkt nach Zuort. Nein, es gibt nicht nur gemütliche Schneeschuhtouren rund um Zuort. Es ließe sich hier eine anspruchsvolle Skitourenwoche verbringen. Das ausgeprägte Relief fordert Kondition und Können, setzt aber auch stabile Verhältnisse voraus. Der 3293 Meter hohe Muttler wäre ein forderndes Ziel mit fünfstündigem Aufstieg, den man besser gut eintrainiert angeht. Als leichte, ideale Eingehtour bietet sich der 3002 Meter hohe Piz Nair, das Schwarzhorn, an. Etwa dreieinhalb Stunden muss man für den Aufstieg über seinen Westrücken rechnen. Oben steht man dann mitten im Gipfelmeer. Unten wirkt winzig klein der Hof von Zuort. Einsam liegt er in wilder Landschaft. Als wärs am Ende der Welt.

Von Scuol aus kommt man per Postauto und dann zu Fuß nach Zuort. Foto: Iris Kürschner

Die Seele des Hauses

Seit Mai 2020 wird der Betrieb wieder von der Familie Pult aus Sent geführt, die ihn in den 60er und 70er Jahren bewirtschaftete. Not Pult, der hier aufwuchs, übernahm. Gemeinsam mit seiner Frau Andrea zaubern sie lokale Spezialitäten auf den Tisch wie Cullas da Vnà, Capuns, Pizzokels oder Plain in Pigna. Deftiges. Ein Genuss, nach einer ausgiebigen Tour.

Pizzokel mit Steinpilzen – perfekt nach einem langen Tag im Schnee. Foto: Iris Kürschner

Später vielleicht ein Saunagang im Waschhaus? Oder ein Wannenbad in der Villa Mengelberg? Letzteres dann doch ein Traum. Seit zwei Jahren bleibt die Villa Mengelberg im Winter geschlossen. Schade, aber auch verständlich. So erzählt uns der Wirt, dass die aktuellen Energiepreise eine Beheizung der Villa nicht mehr erlauben. Das Denkmal geschützte Haus verfügt über keinerlei Isolation und ist deshalb nur noch während der Sommersaison geöffnet. Die Gästezimmer im Hofgebäude aber stehen denen in der Villa kaum nach. Sie versetzen gleichfalls in jene Zeit.

So schön, dass man ewig bleiben wollte….am besten bis zum Sommer.

Mitunter raunt ein Knarzen durch die nächtliche Stille des Gebäudes, als würde Mengelberg noch anwesend sein. Sensible Seelen spürten seinen Geist, so heißt es. Manche Räume wirken schwer, weil kaum Licht durch die Butzenfenster zu dringen vermag. In den meisten Zimmern aber wurden sie durch Glas ersetzt und die Berge leuchten hinein. So schön, dass man ewig bleiben wollte….am besten bis zum Sommer.

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