Luchs, aufgenommen durch eine Fotofalle
Erwischt! Die Luchs-Dame Skadi ist bei der nächtlichen Pirsch in die Fotofalle getappt. Foto: Sonnvilla-Graf OG
Auf dem Luchs Trail

In heimlicher Mission

„Österreichs wilde Mitte“ ist ihr Zuhause: Luchse wandern gern und weit, sie sind wunderschön anzusehen und darum die idealen Paten für ein spannendes Weitwanderprojekt.

Sie sind zu sechst: Juri, Karo und Lakota – das sind die Burschen – sowie Aira, Kora und Skadi – das sind die Madln. Sie gehören zur Art der Luchse und leben im Dreiländereck zwischen Oberösterreich, der Steiermark und Niederösterreich, einem der größten naturnahen Waldgebiete Mitteleuropas. „Der Luchs“, sagt der Wald- und Waidmann Franz „Siegi“ Sieghartsleitner und gebraucht das generische Maskulinum, „ist nicht scheu. Der Luchs ist heimlich“. Was er damit meint: Das Tier möchte einfach nicht gesehen werden. Wer also die Luchse in diesem Sinn nicht sehen möchte, begibt sich in eine Gegend, die deutschen Bergwandernden weniger bekannt sein dürfte als das Annapurna-Gebiet in Nepal, nämlich in „Österreichs wilde Mitte“.

So heißt das Motto des Luchs Trails, der im Sommer 2019, nach fünfjähriger Projektarbeit, eröffnet wurde und in Reichraming beginnt. Es ist nicht der nächste Weg. Von Steyr geht es immer der Enns entlang nach Süden, bis sich die Berge hinter einem schließen. Berge, die bis oben hin einen Waldpelz tragen und den Eindruck machen, dass man sich in ihnen verlieren kann. In Reichraming leben 1700 Menschen, der Ort ist auch „heimlich“. Das heißt, dass der Tourismus hier nicht die Hauptrolle spielt – eine Erfahrung, die gewohnheitsmäßigen Tirol-Gästen unheimlich sein dürfte. Dabei beginnt gleich hinter den Häusern der Nationalpark Oberösterreichische Kalkalpen, für dessen Öffentlichkeitsarbeit Franz Sieghartsleitner verantwortlich ist.

20.825 Hektar Fichten, Tannen, Buchenwälder, Schluchten, unberührte Bergbäche und Almen zwischen Sengsen- und Hintergebirge: das größte Waldschutzgebiet Österreichs und zugleich das erste Highlight auf dem Luchs Trail.

Der Luchs Trail führt in elf Etappen über insgesamt 220 Kilometer vom Nationalpark Kalkalpen zum Nationalpark Gesäuse und weiter ins Wildnisgebiet Dürrenstein. Alle Wege gab es schon vorher; sie miteinander zu verbinden, war dabei nicht die Idee von touristischen Marketingprofis, sondern von Wissenschaftler*innen und amtlichen Naturschützer*innen. Ihnen ging es darum, einen „funktionellen Biotopverbund“ und „Wanderkorridore“ zu schaffen – wobei hier erst mal nicht Tourist*innen wandern sollen, sondern das Wild und namentlich der Luchs, der im 19. Jahrhundert in den Alpen ausgerottet war. Immer wieder wurden auch in den letzten Jahren noch einzelne Tiere durch die Jagd getötet, obwohl die oberösterreichischen Luchse natürlich streng geschützt sind. Als letzte Teilpopulation in den Ostalpen bildeten sie einen „Brückenkopf“ in den Luchsen im Böhmerwald und zu den Karpaten, sagt Franz Sieghartsleitner. Nun gelte es, die kleine Luchspopulation aufzustocken und die Wilderei einzudämmen. Die EU hilft mit Fördermitteln.

Der Wald wird wieder wild

Eine ausgeprägte Allergie gegen die Farbe Grün sollte nicht haben, wer sich auf den Luchs Trail begibt. Oder man kommt im Herbst, wenn Grün zu Rot, zu Gelb, zu Braun geworden ist. Von Reichraming geht es neben dem Reichramingbach hinein zum Wildnistrail Buchensteig. Im Nationalpark gibt es noch viele naturnahe Buchenwaldbestände, sie sind Teil des länderübergreifenden Unesco-Weltnaturerbes Buchenwälder. Sogar einige Urwaldreste haben sich in unzugänglichen Gebieten erhalten. Forschende entdeckten dort eine mittlerweile 547 Jahre alte Buche – die älteste Buche Kontinentaleuropas – und eine mehr als doppelt so alte Eibe.

Wer sich auf den Wildnistrail im Reichraminger Hintergebirge begibt, sollte keine Grün-Allergie haben. Foto: Axel Klemmer

Zwei bis drei Stunden folgt man dem schmalen Pfad unter den Bäumen. Manchmal rauschen die Kronen, immer rauscht der Bach. Waldbaden, wenn man so will. Man erreicht das enge Felstor der Großen Klause. Schon um das Jahr 1500 wurde hier das Wasser des Großen Baches aufgestaut. In dem Stausee, der sich so bildete, sammelte man die geschlagenen Stämme. Dann wurde das Sperrwerk geöffnet, und der gewaltige Schwall spülte die Baumstämme talauswärts Richtung Reichraming. Letztmals geschah das 1936. Weniger archaisch verlief danach der Holztransport auf der Waldbahn, die noch bis 1972 fuhr. Seither verfielen die Klausen, und die Forststraßen werden nur noch zum Teil erhalten. Der Wald wird wieder wild. Vor der Großen Klause wird bei der Rabenbachbrücke eine Fotofalle für Luchse passiert, und dann tappt man selbst, geködert von unwiderstehlichen Mehlspeisen, in die Kalorienfalle der Klaushütte. Das ist etwas gemein, denn einige Gehminuten weiter führt der Weg die Bergflanke hinauf.

Durch die Große Klause wurden früher die Baumstämme durchgespült. Foto: Axel Klemmer

Drüben ragt der Größtenberg auf, 1724 Meter hoch, der Kavenzmann im Waldmeer. Die niedrigere „Welle“ vor ihm ist der Kienrücken. „Ein ganz kleiner Steig führt da oben lang“, sagt Franz Sieghartsleitner, „da bist du den ganzen Tag allein.“ Allein mit den Bäumen. Der erste Eindruck bestätigt sich mit jedem weiteren Schritt: Man kann sich in dieser Landschaft verlieren. Der Weg wird schmal und steil, dann tritt man aus dem Bergwald plötzlich auf eine riesige Almwiese hinaus. In entspanntem Bummeltempo geht es hinüber zur Anlaufalm, der ersten Unterkunft am Luchs Trail. Kleiner Tipp: Bestellen Sie dort nur die kleine Portion der Brettljause. Keine zwei Stunden nach der Mehlspeise ist das tollkühn genug.

Ein Stück hinter der Großen Klause beginnt der Aufstieg zu den Wiesenflächen der Anlaufalm. Foto: Axel Klemmer

Die Almen im Nationalparkgebiet sind hellgrüne Oasen in der dunkelgrünen Wildnis; ihre Erhaltung und extensive Bewirtschaftung genießt höchste Wertschätzung. Und das war nur die erste Etappe. Hinter der Anlaufalm geht es noch zehn Etappen lang weiter. Über die Haller Mauern nach Admont mit seinem berühmten Benediktinerkloster, dann um die Reichensteingruppe herum zum Niederberg auf dem Kamm der Eisenerzer Alpen. Er markiert den Knick im „V“ der Routenführung: Führte der Luchs Trail bis hierher immer Richtung Süden, wendet er sich nun nach Norden beziehungsweise Nordosten.

Die Enns (rechts der Gesäuseeingang mit der Hochtorgruppe) ist für Luchse kein unüberwindliches Hindernis – sie schwimmen durch. Foto: Axel Klemmer

Hinab nach Johnsbach im Gesäuse, hinunter zur Enns, durch den Nordteil des Nationalparks Gesäuse Richtung Ybbstaler Alpen, nach Gams, Lassing und Göstling und schließlich hinüber ins letzte Schutzgebiet, das Wildnisgebiet um den Bergriesen Dürrenstein, der mit einer Höhe von 1878 Metern seine Umgebung himmelhoch überragt. Man erreicht den höchsten Punkt, das Allerheiligste betritt man aber nicht.

Eindrucksvoller Wegabschnitt unter der himmelhohen Gesäuse-Kulisse im „Gseng“ zwischen Johnsbach und dem Ennstal. Foto: Axel Klemmer

Das Urwaldreservat ist touristisches Sperrgebiet

Östlich unter dem Gipfel liegt das Urwaldreservat Rothwald: 400 Hektar Waldwildnis, die seit ihrer Entstehung vor rund 10.000 Jahren tatsächlich noch niemals – niemals! – forstwirtschaftlich genutzt wurden und heute ebenfalls Teil des Unesco-Weltnaturerbes Buchenwälder sind. Hinein darf man nicht, das Naturreservat ist touristisches Sperrgebiet. Man kann sich lediglich für die Teilnahme an einer von sechs öffentlichen Führungen im Jahr bewerben; die jeweils 20 Plätze sind schnell weg. Aber auch ohne das Urwaldspektakel ist der Weg über den Gipfel und der lange Abstieg durch das großartige Seetal nach Lunz am See ein spektakuläres Finale. Es ist zugleich die längste Etappe, zehn Stunden Gehzeit.

Ein Luchs schafft so was locker. Aber ein Mensch?

Mehrere Etappen des Trails sind in dieser Hinsicht „luchstauglich“. Auf manchen anderen (wenigen) Passagen fühlt man sich dagegen der Zivilisation näher als der Wildnis. Zum Beispiel am Hengstpass oder neben der Enns bei Seegatter, am Fuß der gewaltigen Gesäusemauer. Hier erfährt man einmal mehr, dass idyllische Naturbilder vor Ort auch eine Tonspur haben, die manchmal eben nicht idyllisch ist. Doch selbst auf diese Weise lernt man viel über die Natur – und dass nicht wenige Mitmenschen sie am liebsten durch die Sichtschlitze ihrer Premium-Automobile oder Motorradhelm-Visiere erleben: als veränderliches Hintergrundbild. Weitwandern wird da zur Übung für Fortgeschrittene, die Landschaft nicht durch den Servus-TV-Filter sehen wollen, sondern so, wie sie wirklich ist. Vielleicht ja auch versuchsweise mit den Augen und Ohren des Luchses. Das erweitert die Realität und ist ziemlich spannend.