Frau wandert am Berg entlang eines ehemaligen Bewässerungskanals
Nur eines von vielen Highlights beim Suonen-Wandern: die Bisse du Ro. Foto: Bernd Jung
Wandern an Suonen im Wallis

Entlang der Leitung

Wie kommt das Wasser auf die Felder – wenn Niederschläge doch großteils an hohen Gipfelketten hängen bleiben? Bereits im 15. Jahrhundert wussten die Menschen sich mit Suonen zu helfen. Bernd Jung wandert im Wallis an den geschichtsträchtigen Bewässerungskanälen und ist immer wieder beeindruckt von den über 500 Jahre alten Konstruktionen.

Das Wallis – wer denkt da nicht an das von Viertausendern gespickte Hochgebirge, an Skiorte wie Zermatt oder Saas-Fee. Suonen würden jedoch wohl kaum jemandem in den Sinn kommen. Sie sind zwar kaum über die Landesgrenze hinaus bekannt, gehören aber zum Wallis wie der Gruyère oder Vacherin in das Käsefondue. Suonen – im Französischen „Bisses“ genannt – sind Wasserleitungen oberhalb des Rhonetals, die in erster Linie der Bewässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen dienen. Benötigt werden die Suonen, da das Rhonetal schon seit jeher als niederschlagsarme Region gilt. Es ist im Norden von den Berner Alpen und im Süden von den Walliser Alpen umschlossen, deshalb bleibt ein großer Teil der Niederschläge an den hohen Gipfelketten hängen.

Spektakuläre Wasserläufe

Mit den Suonen überrascht der Kanton Wanderbegeisterte mit einer ganz anderen Seite, ohne dass dabei das Hochgebirge betreten werden muss. Diese Seite wollen wir drei Tage lang erkunden und einige der Wasserkanäle bewandern.

Schwindelerregend: der im Fels verankerte Holzsteg und Wasserkanal auf der Ancien Bisse de Saviese. Foto: Bernd Jung

Unsere erste Suone ist die Ancien Bisse de Savièse. „Ancien“ heißt so viel wie früher oder ehemalig, diese Suone hat also heute keine Bewässerungsfunktion mehr. Einige dieser ehemaligen, teilweise zerstörten Wasserläufe wurden in den vergangenen Jahrzehnten rekonstruiert und parallel dazu verlaufende Wanderwege der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Seit Jahrhunderten haben Menschen vielerorts auf der Welt künstliche Bewässerungssysteme gebaut. So spektakulär wie im Wallis sind die Wasserläufe jedoch selten angelegt. Umso erstaunlicher die Tatsache, dass die Geschichte der Walliser Suonen rund tausend Jahre in die Vergangenheit reicht. Besonders eindrücklich erfahren wir das schon auf der Begehung der Bisse de Savièse. Infotafeln am Wegesrand klären uns auf, dass der entlang von Felswänden schwindelerregend angelegte Wasserweg bereits zwischen 1430 und 1448 errichtet wurde. In einigen Abschnitten fließt das Wasser in einem kleinen Graben parallel zum Weg. Wo praktisch nur noch eine steile Felswand übrig bleibt, wird das Wasser durch einen aus Holzbrettern zusammengesetzten Kanal transportiert. Dieser ist zusammen mit einem Laufsteg über Balken, die in großen Löchern verankert sind, an der Felswand aufgehängt. Eine ziemlich luftige Angelegenheit, bei der man sich fragt, wie um alles in der Welt das mit den technischen Möglichkeiten des 15. Jahrhunderts bewerkstelligt wurde.

Sanfte Bächlein statt steiler Felsflanken

Die stillgelegte Bisse de Savièse wird von der noch genutzten Bisse du Torrent-Neuf abgelöst. Statt eines ausgesetzten Weges durch steile Felsflanken windet sich nun ein sanftes Bächlein durch einen herrlichen Wald. Das sanfte Wandern entlang der Suone mit dem begleitenden Plätschern am Wegesrand hat einen regelrecht meditativen Charakter. Weil die flachen Wege entlang der Berg- und Felsflanken immer wieder die Richtung wechseln, ändert sich stets auch das Landschaftsbild. Je nach Laufrichtung dominiert auf der anderen Seite des breiten Rhonetals das weiß leuchtende Mont-Blanc-Massiv oder auch die Walliser Eisriesen um Gipfel wie Dent Blanche und Weisshorn. Über die kleine, aber reizvolle Bisse de Déjour erreichen wir den Ort Arbaz und abschließend, einem kurzen Stück der Bisse d’Ayent folgend, Anzère.

Die Bisse D'Ayent schlängelt sich entlang senkrechter Felswände. Foto: Bernd Jung

Am nächsten Morgen setzen wir unsere Wanderung entlang der Bisse d’Ayent fort. Urplötzlich verschwindet die Suone im Berg, der Weg folgt ihr durch einen beleuchteten Tunnel. Nach Verlassen des Tunnels fällt der Blick automatisch auf die senkrechten Felswände, die wir soeben durchquert haben. Hier wurde ein Stück der historischen Wasserleitung rekonstruiert, die das Wasser ehemals durch einen Holzkanal transportierte. Ein Loch in der Mitte des Tunnels, das zu einer schwindelerregenden Plattform führt, lässt besonders gut erahnen, welcher Gefahr die Suonenbauer im 15. Jahrhundert ausgesetzt waren. Seit 2019 ist der Holzkanal auf der Rückseite der neuen 100-Franken-Note zu sehen und hat damit nochmals an Bekanntheit gewonnen! Die Bedeutung der Suonen vor dem Hintergrund der durch den Klimawandel bedingten wärmeren und trockeneren Sommer zeigt sich am Beispiel der Bisse d’Ayent, welche die Felder und Rebberge zweier großer Gemeinden versorgt. So wurden in jüngerer Zeit Wasserreservoirs und unterirdische Leitungen erschlossen und mit den Suonen verbunden, um besser mit Wasserknappheit umgehen zu können. An der Stelle, wo solch eine Leitung die Bisse d’Ayent mit Wasser füllt, wird diese von der Ancien Bisse d’Ayent abgelöst. Wasser führt diese ehemalige Suone nicht mehr, aber vielleicht ist man ganz froh, dass man den schmalen, in senkrechten Felswänden angelegten Pfad nicht noch mit einem Wasserlauf teilen muss.

Krönender Abschluss am Wasserfall

Einen landschaftlichen Szenenwechsel bildet der türkisfarbene Stausee Lac de Tseuzier, bevor es weiter zur Ancien Bisse du Ro geht. Nach der Überquerung der 120 Meter langen Hängebrücke Passerelle du Noir startet der spektakuläre und äußerst luftige Gang entlang von Felswänden. Und wieder einmal verschlägt es uns die Sprache, als Infotafeln über den Bau der Bisse du Ro im 14. Jahrhundert berichten.

Abwechslungsreich: unterwegs auf der Hängebrücke der Bisse du Ro. Foto: Bernd Jung

Nach einer Nacht im mondänen Crans-Montana folgen wir am nächsten Morgen der über 500 Jahre alten und bis heute ihrer Funktion treu gebliebenen Bisse de Tsittoret. Fast sieben Kilometer windet sich der Wasserlauf durch eine bezaubernde Landschaft, gesäumt von Lärchen oder grünen, mit unzähligen Blüten garnierten Hängen. Den Abschluss bilden Gräben entlang von Felswänden, bis die Suone im Tal La Tièche ihren Ursprung findet. Einen prächtigen Wasserfall sichten wir noch im Talschluss von La Tièche und entschließen uns, diesen Abstecher dorthin zu unternehmen. Eine lohnende Entscheidung, wie wir feststellen, als wir uns auf den flachen Grasflächen im Angesicht des tosenden Wassers niederlassen.

Imposant: Die tosenden Wassermassen des Wasserfalls im Tal La Tièche laden zum Staunen und Verweilen ein. Foto: Bernd Jung

Nach Verlassen der Bisse de Tsittoret begeben wir uns auf den Weg, der zur Cabane des Violettes führt. Schnell bemerken wir die Stille um uns. Keine Suonen mehr. Aber nicht, dass die Stille erleichternd wirken würde. Im Gegenteil, fast vermissen wir das beruhigende Plätschern des Wassers am Wegesrand, das uns die letzten Tage begleitet hat.

Entlang am gemütlich plätschernden Bächlein der Bisse de Tsittoret. Foto: Bernd Jung

Dafür empfängt uns auf der Cabane des Violettes noch mal eine großartige Aussicht auf das Rhonetal. Entspannt genießen wir diese auf der Sonnenterrasse der Hütte, bevor uns die Gondelbahn wieder hinab nach Crans-Montana bringt. Dunkle Wolken ziehen das Rhonetal herauf, bald fallen erste Regentropfen. Der Regen wird die Suonen wieder füllen und neben dem angenehmen Plätschern am Wegesrand das ersehnte Nass auf die Felder bringen.