Schafe in den Hügeln von Snowdona
Schafe, Gras, Wasser - im Snowdonia Nationalpark ständige Begleiter. Foto: Folkert Lenz
Snowdonia-Nationalpark in Wales

„Schnee-Berg“ im Schaf-Land

Wer trittsicher und sturmerprobt ist oder auch mal Nässe beim Wandern abkann, findet in den Snowdonia Mountains ein geschichtsträchtiges Terrain vor, auf dem schon für Achttausender trainiert wurde.

Warum die britische Everest-Expedition von 1953 sich die Berge rund um den Snowdon für ihre Vorbereitungstouren ausgesucht hat? Obwohl der höchste Punkt des Waliser Nationalparks die 1000-Meter-Marke gerade mal überschreitet? Wer in diesem garstigen Terrain zurechtkommt und das britische Wetter erduldet, sollte wohl auch dem höchsten Berg der Erde gewachsen sein. Das mögen sich Expeditionschef John Hunt und der Everest-Erstbesteiger Edmund Hillary gedacht haben, bevor sie damals in den Himalaya aufgebrochen sind.

Viel Gras, viel Nebel

Belegt ist jedenfalls, dass das britische Alpinistenteam in Snowdonia seinerzeit verschiedene Traggestelle für Sauerstoffgeräte testete, die später am Mount Everest zum Einsatz kommen sollten. Es muss eine ordentliche Plackerei gewesen sein, denn in seinem späteren Expeditionsbericht „Kampf und Sieg“ schimpft Hunt, welch „große Willenskraft“ nötig war, um die Apparate mühselig vom Talboden des Nant Gwynant die Hänge des Snowdon hinauf zu schleppen. „Mich traf fast der Schlag vor Hitze und Beklemmung“, ächzt Hunt und kommt zu der Überzeugung, dass die Sauerstoffspender wohl nur bei großer Kälte zu verwenden seien. Pech, dass sich Hunt und Co. für ihre Everest-Vorbereitung mit den Atemmasken einen „außergewöhnlich warmen und sonnigen Januartag“ ausgesucht hatten. 

Dass Schnee und Sturm im nordwalisischen Mittelgebirge auch im Sommer ganz normal sind, merken wir bei der Besteigung des höchsten Berges von Wales, dem Snowdon (1085 m). Nomen est omen, könnte man hier klug zitieren, denn „snow“ plus „don“ bedeutet im Alt-Angelsächsischen nun mal schlicht und einfach „Schnee-Berg“. Und so pfeifen uns – seit dem Morgen, als wir die schützende Herberge am Pen-Y-Pass verlassen haben – die Regentropfen und manches Hagelkorn waagerecht entgegen. Was die schlechtwettergewohnten Einheimischen nicht davon abhält, eine Bergwanderung anzutreten. Über Schafgatter hinweg steigt der mit Steinplatten ausstaffierte Bergweg, der Miner's Track, in die grasigen Flanken. Gemeinsam mit den Schafen starren wir im Regen auf die Seen Llyn Llydaw und Glaslyn, die von oben wie zwei blaue Augen aussehen. Sie geraten alsbald außer Sicht, weil Wolken und Regenschwaden den Blick so eintrüben, dass man die dampfbetriebene Bergbahn, die gen Gipfel schnauft, erst wahrnimmt, als sie die Wandersleute neben den Gleisen mit einem Pfiff warnt. Bald danach ist der futuristische Stein-Kasten erreicht, der seit 2009 als Bergstation der Snowdon Mountain Railway dient (2022 geschlossen!). Nicht alle verlassen die schützende Halle wieder, um noch die letzten Schritte bis zu der Bronze-Windrose zu gehen, die den höchsten Punkt des Snowdon (walisisch: Yr Wyddfa) ziert. Auf gute Aussicht zu hoffen, ist dort oben ohnehin ein Lotteriespiel: Mindestens sieben von zehn Tagen – sagt die Klimatabelle – sind Nebeltage. Das nahe Meer ist heute ebenso wenig zu sehen wie die schroffen Grasrücken und bröckeligen Felsgrate, die sich hier hinaufziehen.

Weiter droben reduziert sich der Bodenbewuchs auf knöchelhohes Gras, violett blühendes Heidekraut und Farnbüschel sowie windzerzauste Büsche.

Drei Tage zuvor war es nicht gar so grauslich. Beim Trekking-Start in dem kleinen Weiler Rowen am Rande des Snowdonia Nationalparks lugt sogar manchmal die Sonne hinter den schnell ziehenden Wolken hervor, die von der Irischen See zu dem Waliser Mittelgebirge heranhetzen. Beim Blick zurück tut sich ein satt-grüner Landstrich auf: Helle Wiesen, mit dunklen Waldstücken gesprenkelt, schmiegen sich in das Flusstal vom Afon Conwy, daneben legen Weiden und Wiesen ein Schachbrettmuster über die Ebenen. Weiter droben reduziert sich der Bodenbewuchs auf knöchelhohes Gras, violett blühendes Heidekraut und Farnbüschel sowie windzerzauste Büsche. Der Weg geht an Hügelgräbern vorbei, passiert kilometerlange Steinmauern mittels hölzernen Überstiegen. Hier haben die Schafe das Sagen: Hinter jeder Kuppe, jedem Findling warten ein paar der weißgelockten Tiere, um sogleich in jähem Flucht-Galopp das Weite zu suchen und uns aus der Ferne mit wütendem Bääh-Bääh zu bedenken.

Fun Fact: Auf ungefähr drei Millionen Menschen kommen in Wales etwa viermal so viele Schafe. Foto: Folkert Lenz

Ansonsten sieht es aus, als ob ein Hobel über das Land gefahren ist: Grasige Buckel wechseln sich mit felsigen Höckern ab, auf denen der steinerne Untergrund blank liegt. Das reichlich vorhandene Wasser tritt als Pfützen, Rinnsale oder Moore in Erscheinung: Immer gilt es, Lachen und Gerinne unter lautem Platschen der Wanderstiefel oder von Stein zu Stein hüpfend zu überwinden. Dunkle, wässrige Augen starren aus der Tiefe herauf: Loch werden die Tümpel hierzulande genannt. Und je weiter man in das Gebirgsareal hineinläuft, desto öder und felsiger erscheint dieses.

Bei „3“ oder gar „3S“ holen auch die Locals schon mal das Seil aus dem Rucksack.

Nach ein paar Stunden ist der Carnedd Llewelyn (1064 m) erreicht. Viel Aufhebens wird hier nicht um die Tatsache gemacht, dass es sich dabei um den zweithöchsten Gipfel in Wales handelt: Der Cairn – ein Steinhaufen, mit dem hierzulande die Gipfel markiert werden – ist nicht besonders augenfällig. Dass das Terrain durchaus schroff daherkommen kann, zeigt sich beim Abstieg vom Carnedd Dafydd (1044 m) über den pyramidenförmigen Pen Yr Ole Wen (978m) zum Idwal Cottage, in dem sich als Etappenziel die Herberge befindet. Plötzlich und unvermutet tauchen die grauen Dächer von Idwal direkt vor den Stiefelspitzen auf – allerdings 600 Höhenmeter tiefer. Der steile, felsige Hang will nun vorsichtig abgeklettert werden. Trittsicherheit ist hilfreich bei der Überwindung des Steilabbruches.

Very British: Scrambling

Wenn die Hände aus den Hosentaschen müssen, dann bezeichnen die Menschen in Wales das übrigens als Scrambling: (meist) seillose Kraxelei in einem losen Gemisch aus Felsblöcken, Heidekraut und Geröll. Drei verschiedene Schwierigkeitsgrade nennt die heimische Führerliteratur: Bei „1“ sind es häufig ausgesetzte Grate, auf denen man gelegentlich die Hände zum Ausbalancieren benutzt. Bei „2“ wird gerne mal ein Helm aufgesetzt, weil man sich hier schon in steileren Aufschwüngen bewegt. Ein Fehltritt wäre meist fatal. Und bei „3“ oder gar „3S“ holen auch die Locals schon mal das Seil aus dem Rucksack, denn hierbei handelt es sich um Klettergelände – welches aber häufig grasdurchsetzt ist oder Schuttpassagen aufweist – eine typische Schrofen-Kraxelei.

Ab hier Hände raus aus den Hosentaschen: Auf englisch heißt das Schrofenkraxeln "Scrambling". Foto: Folkert Lenz

Die verwegene Krabbelei in der Halb-Vertikalen ist auch an den Rücken, Graten und Steilflanken populär, die am nächsten Tag auf dem Weg von Idwal zum Pen-Y-Pass passiert werden können: Allen voran der Nordgrat auf den Tryfan (917 m). Aber auch Glyder Fach (994 m) oder Glyder Fawr (1001 m) locken mit Anstiegen, die diese Mixtur aus Klettern und Steigen bieten. So kommt man auch zur „Burg“ (Castel-Y-Gwynt, 970 m), deren Felsformation eher einem Dinosaurier-Rücken als einem Kastell ähnelt. Oder in Teufels Küche (Devil´s kitchen), eine beeindruckende, düstere Felsarena am Y Garn (947 m). Aufgrund des Wetters – very british – verzichten wir auf langwierige Exkursionen in die Glyderau-Berge und nehmen die Abkürzung gen Pen-Y-Pass (359 m).

Land der Dreitausender

Auffälligster Unterschied zu einer Bergwanderung in den Alpen: Statt Dohlen umkreisen uns hungrige Möwen bei der Rast am Joch von Bwich Tryfan. Statt Steinböcken begegnen uns mächtige behörnte Welsh Goats – die Tiere zeigen durch ihren nasenbetäubenden Gestank, dass sie zu den Ziegen gehören. Wegzeichen gibt es eher wenige. Pfade existieren in manch moorigen Mulden schlichtweg nicht. Der Durchschlupf durch menschenhohe Farnwedel-Wälder gestaltet sich schwierig. Immerhin: Im Unterschied zum Norden des Nationalparks sind hier einige zu Fuß unterwegs. Etwa auf der „Welsh 3000s“-Route. Dabei sind 15 Dreitausender-Gipfel abzulaufen. Nein, nein, 3000 Fuß (feet) sind hier gemeint, was einer Höhe von 914,4 Metern entspricht. Die Strecke führt durch die Massive von Snowdon, Carneddau und Glyderau und hat es in sich: Rund 50 Kilometer sind zu absolvieren samt 4000 Höhenmetern, mehr Trailrunning als klassisches Bergsteigen. 

Weiß statt schwarz, vergleichbar ist der gelbe Schnabel und der große Hunger: Bergbrotzeit mit Möwe. Foto: Folkert Lenz

Wer in Snowdonia unterwegs ist und alpinistische Historie in der Moderne erleben will, kommt um eine Einkehr im legendären Pen-Y-Gwyrd-Hotel nicht herum. Das PYG ist seit jeher ein Treff der (zumindest britischen) alpinen Szene. 1810 als Bergbauernhof erbaut, setzt der Besitzer bis heute auf Tradition und hat das Interieur nicht aufgehübscht. „Wir wollen jeden Anspruch auf Modernität vermeiden“ – diese Leitlinie findet sich sogar in der Gästebroschüre wieder. So sind Etagen-WC und -Dusche noch immer Standard – wenn auch jedes der viktorianischen Badezimmer in anderer schriller Buntheit gestaltet ist. Das mehrgängige Diner wird bis heute von altbacken gekleideten Frauen im schwarzen Leibchen serviert. Einen traditionellen Smoking Room gibt es genauso wie einen Lesesaal mit Kamin. Außerdem dient das PYG auch als Bar für die Locals. Neben dem Tresen kann ein Memorabilien-Schrein für die 1953er-Everest-Expedition bestaunt werden. Der Strick, mit dem sich Hillary und der Sherpa Tenzing Norgay beim Gipfelgang verbunden haben, findet sich hier genauso wie ein Sauerstoffkanister von damals, Steigeisen, ein Peilkompass, eine alte Gletscherbrille und Hillarys Sonnenhut. Denn die Everest-Crew hatte sich immer wieder zum Jahrestag ihres Gipfelsieges im PYG getroffen und gefeiert – ausweislich ihrer Unterschriften an der Deckenvertäfelung des Kneipenraums.  So kann man bis heute dem Expeditionsflair nachspüren und in der Badewanne liegen, in der Edmund Hillary geplanscht haben könnte. Oder den Abtritt benutzen, in den vielleicht schon Tenzing Norgay nach einer Everest-Jubiläumsfeier seine Notdurft verrichtet hat.

Das Pen-Y-Gwyrd-Hotel ist seit jeher ein Treff der (zumindest britischen) alpinen Szene.

Zurück zum Snowdon. Wie eine Spinne streckt der seine langen und feingliedrigen Berg-Arme über die Landschaft. Mindestens sieben traditionelle Wege führen auf ihn hinauf. Einfachere wie der Miner's oder der PYG-Track. Längere wie Llanberis und Watkins Path. Einsame wie Ranger und Rhyd-Ddu Path. Und natürlich der Adrenalin-steigernde Anstieg über Crib Goch und seinen legendären „messerscharfen“ Grat. Der bietet allemal alpinistisches Flair. Wir können vom Normal-Anstieg ein Schweizer Kletter-Duo dabei beobachten, wie es sich auf dem zackigen Rücken gegen die Wind-Böen stemmt. Wie sich das Paar vorsichtig über die Gratschneiden vorantastet, die durch den Regen immer schlüpfriger werden. Tricky sieht das aus und ist gewiss nicht ungefährlich. „Fast hätte uns der Sturm da oben runtergeblasen“, verrät der triefnasse Mann später beim Kaffee im schützenden Wartesaal des Berg-Bahnhofs, puh!

Ganz klar also, warum sich die Everest-Besteiger von 1953 genau diesen Gipfel als Übungsgelände auserkoren hatten: Sämtliche Widrigkeiten des Himalaya sind eindeutig auch in diesem Mini-Gebirge zu finden…