Skitouren im freien Gelände
Skitourenaufstieg. Foto: DAV/Daniel Hug
Sicherheitsforschung: Skitourengruppen und ihre lawinenbezogenen Tourenentscheidungen

Denn sie wissen im Wesentlichen, was sie tun

Die DAV-Sicherheitsforschung hat in den Wintern 2020 und 2022 an zwei klassischen Skitourenstandorten (Kelchsau in den Kitzbüheler Alpen und Namlos in den Lechtaler Alpen) 112 Skitourengruppen befragt und die von ihnen begangenen Touren erhoben (siehe auch Panorama 1/2022 und 6/2022). Die Gruppen unterschieden sich zum Teil deutlich bezüglich Erfahrung, Gebietskenntnis und Tourenvorbereitung.

Die lawinenkundliche Risikokompetenz wird im Deutschen Alpenverein durch Ausbildungen in den Sektionen und durch das zentrale Ausbildungsprogramm für Trainer*innen vermittelt. Es wird davon ausgegangen, dass wenig fachkundige Skitourengeher*innen sich bei ihren Entscheidungen auf wenige Faktoren stützen, die einfach zu ermitteln und zu beurteilen sind (Lawinengefahrenstufe, Hangsteilheit). Je größer aber das Lawinenwissen einer Person ist, desto genauer sollte diese Person auch die Gesamtsituation analysieren können und ein entsprechend präzises Bild entwickeln können. Sowohl Unerfahrene als auch Erfahrene sollten zu guten Einschätzungen kommen können, wobei Unerfahrene lawinenbezogen einfachere Touren wählen und öfters verzichten werden. Fachkundlich Erfahrenere dagegen können aufgrund ihrer präziseren Kenntnis komplexere Touren bei komplizierteren Verhältnissen wählen.

Soweit die weit verbreitete Annahme über den Zusammenhang zwischen Erfahrung, Entscheidungsprozess und Verhalten im Gelände. Aber wie gehen Gruppen tatsächlich vor, um zu ihren Entscheidungen zu gelangen? Gehen sie strukturiert und systematisch vor? Nutzen sie den Lawinenlagebericht, probabilistische (wahrscheinlichkeitsbasierte) Methoden oder Informationen aus der Schneedecke? Und kommen bestimmte Gruppen zu lawinenbezogen besseren Entscheidungen? Anhand der Ergebnisse aus der Befragung und der Begehungsdaten zeichnen wir das Vorgehen der Interviewten von der Planung über die Ankunft am Tourenort bis hin zum Einzelhangentscheid (3x3 nach Werner Munter) nach.

Planung

Großteils werden machbare, bereits eingespurte Standard-Touren gewählt.

Alle befragten Skitourengruppen benannten am Parkplatz eine konkrete Tour, die sie unternehmen wollten, hauptsächlich Standard- und Modetouren. An den Standorten wären durchaus auch ausgefallenere/anspruchsvollere Touren zur Auswahl gestanden. Damit bewegten sich die Gruppen in einem Gelände, das üblicherweise häufig begangen oder befahren wird. Wenige Gruppen hatten eine Tour gewählt, die sie insgesamt für nicht machbar ansahen (aus Zeit-, Wetter- oder lawinenbezogenen Gründen), hatten dann aber bereits einen Umkehrpunkt festgelegt.

64 % der Gruppen gaben an, die Tour mindestens schon einmal gegangen zu sein. Die Erheber*innen baten die Interviewpartner der Gruppe u.a., die geplante Tour auf einer Karte einzuzeichnen, und schätzten die Güte ihrer mentalen Geländevorstellung der Tour ein. Hier lagen die Gruppen im Mittel bei „weitgehend vollständiger“ Geländevorstellung.

Die Lawinensituation spielt eine zentrale Rolle bei der Tourenauswahl.

Auch wenn vereinzelt andere Aspekte bei der Tourenwahl Dominierten (das gute Wetter auszunützen oder guten Schnee zu finden), fanden die meisten Tourentscheidungen unter Berücksichtigung der Lawinensituation statt: 85 % der Gruppen erwähnten spontan die Lawinensituation als Beweggrund für die Wahl ihrer Tour oder als Argument für deren heutige Machbarkeit. Die zentrale Rolle der Lawinensituation bei der Tourenauswahl zeigt sich auch darin, dass von den 65 % der Gruppen, die spontan auch die Lawinengefahrenstufe erwähnten, 93 % diese korrekt angaben, bei geteilter Stufe wurde von 86 % der Gruppen, die sie erwähnten, auch die zweite Stufe korrekt angegeben.

Wir befragten die Gruppen zusätzlich nach der Bedeutsamkeit verschiedener Aspekte für ihre Tourenwahl (z.B. Wetter, Schneequalität, Länge der Tour). Von allen Aspekten wurde die Lawinensituation am relevantesten eingeschätzt. Dagegen waren die Suche nach unverspurtem Gelände/ die Festlegung auf bestimmte Hänge für die Mehrheit der Gruppen/die meisten Gruppen wenig bedeutsam.

Lawinenrelevante Informationen sind meist bekannt, werden aber nicht detailliert genug aufs Gelände übertragen.

Bei der offenen Frage, welche lawinentechnischen Überlegungen für die Tourenwahl relevant waren, nannten die Interviewpartner bei Touren mit relevanten Gefahrenstellen neben der Lawinenwarnstufe spontan zu 56 % das oder die für die Tour vorliegende(n) Lawinenproblem(e) und die Hangsteilheit. Die Angaben waren zu 90 % mehrheitlich oder vollständig korrekt. Nicht bloß die Nennung, sondern auch die mehrheitlich vollständig korrekte Wiedergabe dieser Aspekte hinsichtlich des Inhalts und der Schlussfolgerungen stachen positiv hervor – weniger prägnante (aber nicht zu vernachlässigende) Aspekte wie Exposition (42 %) oder Geländeform (44 %) fielen demgegenüber jedoch deutlich ab. Überlegungen zu den konkreten Konsequenzen einer Lawinenauslösung an einer Gefahrenstelle der gewählten Tour hatten die Gruppen hingegen gar nicht auf dem Radar (nur 2 % Spontannennungen).

Um sich über die Lawinensituation zu orientieren, war für 99 % der Gruppen der Lawinenlagebericht das Standardtool; 49 % ergänzten, standardmäßig analytisch auf der Basis der Lawinenprobleme vorzugehen. 51 % gaben an, gezielt vorhandenen Spuren zu folgen, für weitere 10 % war dies die Standardmethode. 43 % befragten Freunde über machbare Touren, 24 % der Gruppen gaben dies als ihre Standardmethode an.

Ständig verspurtes Gelände und frische Spuren an der Oberfläche sind voneinander zu unterscheiden. Grundsätzlich günstige Zeichen mit einigen Einschränkungen und Ausnahmen. Illustration: Georg Sojer

Skitourengruppen sind also nicht im „Blindflug“ unterwegs, aber sie nehmen das Gelände in Bezug auf Lawinengefahr nicht so detailliert in den Blick, wie es möglich wäre. Wiederholt stellten wir z.B. fest, dass die Interviewpartner ganze Hangbereiche grob als Gefahrenstelle einstuften, die gemäß der seitens der Forschungsgruppe durchgeführten Risikoanalyse mehrere Gefahrenstellen (und auch ungefährliche Passagen) beinhalteten.

Unterwegs

Beurteilung vor Ort

Beurteilung vor Ort

Die Lawinengefahr wird bei Ausrüstung und Tourenwahl berücksichtigt.

Skitourengruppen nehmen die Lawinengefahr ernst. Dies sehen wir dadurch belegt, dass 98 % aller Befragten die notwendige Standard-Notfallausrüstung (Lawinenverschüttetensuchgerät/ LVS, Schaufel und Sonde) mitführten; bei 92 % der Gruppen hatten alle Teilnehmer*innen die Standard-Notfallausrüstung vollständig dabei und bei 23 % der Gruppen alle Personen einen Lawinenairbag – auf Personenebene sind das 36 % aller Befragten.

87,5 % der Gruppen gingen bei der Befragung am Ausgangspunkt davon aus, dass ihre Tour entweder sicher machbar ist oder wahrscheinlich machbar ist unter dem Vorbehalt, dass man Checks durchführt. Die Grundhaltung zu Beginn der Touren könnte als ein Sicherheitsgefühl bezeichnet werden, nach dem Motto: „Unsere Vorstellung von der Tour (Gefahrenstellen) stimmt. Die Entscheidung, heute diese Tour zu wählen, ist richtig. Und andere sehen das auch so.“

Am Einzelhang

Die Skitourengruppen passten ihre lawinenbezogenen Einschätzungen aus ihrer eigenen Sicht an die Situation an.

Jede Skitourengruppe wurde befragt, welche Gefahrenstellen sie bei ihrer Tour vorher identifiziert hatte bzw. während der Tour sah (= „vermutete Gefahrenstellen“). Ein Viertel dieser vermuteten Gefahrenstellen (33 von 132) wurde erst auf Tour als solche gesehen. 48 % der vor der Tour vermuteten Gefahrenstellen wurden auf der Tour als gefährlicher eingestuft als vor der Tour (47 von 99). Skitourengruppen sind also grundsätzlich bereit, ihre Annahmen über die Lawinensituation zu revidieren. Dies zeigte sich auch in ihrer Haltung: Wenn eine Gruppe mehr Gefahrenstellen sah, dann hatte sie auch angegeben, dass bei der Tour „Checks gemacht werden müssen“. Und schließlich änderten 15 % der Gruppen (13 von 86) ihre Tour aus lawinenbezogenen Gründen ab.

Weder analytische noch probabilistische Methoden werden standardmäßig angewandt.

Wir befragten die Gruppen, welche Entscheidungshilfen zur Risikobestimmung bei einer Gefahrenstelle im Gelände verwendet wurden. 29 % der Gruppen führten keine konkreten Maßnahmen durch, lediglich zwei Gruppen (2,3 %) gaben die DAV-SnowCard an. Am häufigsten wurden mit 30 % das Gruppengespräch, gefolgt von einer analytischen Betrachtung der Situation mit 17 % angegeben. Nur sieben Gruppen berichteten, Schneedeckenuntersuchungen durchgeführt zu haben.

An von ihnen vermuteten Gefahrenstellen setzten 63 % der Gruppen risikomindernde Verhaltensmaßnahmen (Entlastungsabstände, einzeln gehen, Umgehung, Verzicht) um (138 Maßnahmen an 218 Gefahrenstellen), waren also bereit und „wach“, um mithilfe von Vorsichtsmaßnahmen das Lawinenrisiko zu senken.

Das erhobene Vorgehen von Skitourengruppen deckt sich in den Grundzügen mit dem Vorgehen, wie es in der Ausbildung vermittelt wird. Es gibt aber auch deutliche Abweichungen von einem erstrebenswerten Vorgehen/von der Lehrmeinung (s. Tabelle).

Lehrmeinung – was wurde beachtet, was nicht

Übereinstimmung

Abweichung

Planung

  • Konkretes Tourenvorhaben

  • Geländevorstellung vorhanden

  • Lawinenlageberichtsinhalte abrufbar

Verbesserungswürdige Qualität der

Tourenplanung

Vor Ort

Vollständige Lawinen-Notfallausrüstung

Spuren folgen

Einzelhang

  • Anpassung der Einschätzungen an die Lawinensituation

  • Einfließen von gültigen/m Lawinenproblemem/en in Einzelhangbeurteilung

Fehlende Systematik bei Einzelhangentscheidungen

und Verhaltensmaßnahmen

Tabelle 1: Übereinstimmung und Abweichung des geschilderten Vorgehens der befragten Skitourengruppen im Vergleich mit der in der Ausbildung vermittelten Lehrmeinung.

Bei der Qualität der Tourenplanung gibt es Luft nach oben!

Beinahe neun von zehn Gruppen gingen davon aus, dass ihre Tour machbar ist – allerdings wurden nur 55 % der Gefahrenstellen auf den durchgeführten Touren von den Gruppen auch als solche erkannt (siehe Panorama 4/2022); das Detailwissen über die erkannten Gefahrenstellen ist also unvollständig. Mangelndes Interesse an oder Wissen über die Lawinenproblematik wären naheliegende Gründe, die aber nicht gefunden werden konnten. Die Ergebnisse weisen vielmehr darauf hin, dass Skitourengruppen vor der Tour kein eingeübtes Schema zur systematischen Bestimmung von Gefahrenstellen anwenden. Mangels systematischer Herangehensweise Stelle für Stelle bleibt die vor der Tour in den Grundzügen vorhandene Geländevorstellung ebenfalls zu wenig detailliert und kann dadurch auch im Gelände nicht zur Aufdeckung von Gefahrenstellen beitragen. Da die Tourenplanung die Weichen für gute Entscheidungen auf Tour stellt, ist sie so wichtig. Es geht darum, zu prüfen, ob die ausgewählte Tour zu den Verhältnissen und zur Gruppe passt. Dazu gibt es eine Reihe von einfachen und pragmatischen Planungshilfen (u.a. alpenvereinaktiv. com, whiterisk.ch, skitourenguru.ch). Hier ist der Weg im Vergleich zu einer Analyse mit Neigungsmesser und Papierkarte in den letzten Jahren deutlich einfacher geworden. Für eine umfassende Tourenplanung und erste Risikoabschätzung der Tour ist die SnowCard-Analyse jedoch unerlässlich.

Die Methode, vorhandenen Spuren zu folgen, hat Grenzen!

Die Mehrheit der befragten Gruppen wählte schon in der Planung häufig begangene Modetouren aus, um das Risiko zu minimieren, in eine Lawine zu geraten. 51 % gaben an, vorhandenen Spuren zu folgen, für weitere 10 % war dies die Standardmethode. Wie ist diese „Methode“ zu bewerten und wo liegen ihre Grenzen?

Bei Gelände, das ständig verspurt wird, ist der Schneedeckenaufbau aufgrund der dadurch stark strukturierten Altschneeoberfläche günstiger als in wenig befahrenem Gelände – die Bildung flächiger Schwachschichten wird erschwert. Allerdings hat dieses Sicherheitsmerkmal auch Tücken: Schwachschichten können auch innerhalb der Neuschneeschicht eingelagert oder vom Frühwinter konserviert sein – manchmal ist es gerade für mit dem Gebiet wenig Vertraute nicht ganz eindeutig, ob das Gelände vor Neuschnee immer flächig verspurt wurde.

Frische Spuren an der Oberfläche hingegen belegen, dass mehrere Personen den Hang bereits getestet haben. Bei den Lawinenproblemen Neu- und Triebschnee hat dieser Punkt eine relativ starke Aussagekraft. Die Wahrscheinlichkeit, direkt im verspurten Gelände eine Lawine im Neu- oder Triebschnee auszulösen, ist deutlich reduziert. Bei einem Altschneeproblem ist die Schwachschicht manchmal nur an Stellen mit geringerer Schneeauflage zu stören. Trifft man zufällig den Punkt, an dem eine Bruchinitiierung möglich ist, haben Spuren rundherum keinerlei positiven Einfluss auf die Auslösebereitschaft im Altschnee.

Spuren können natürlich auch den Effekt haben, dass Tourengeher*innen, um frischen Schnee abzufahren, ihre Spur neben vorhandene anschließen und immer weiter in Randbereiche ausweichen. Dann werden oft Bereiche befahren, die entweder steiler sind, weniger konstant befahren werden, nur eine dünnere Schneeüberdeckung haben oder in einer ungünstigeren Exposition liegen. In Auslaufgebieten von spontanen Lawinen ist der Punkt Spuren komplett ohne Aussagekraft. Denn für den spontanen Auslösemechanismus von Nassschnee- oder Gleitschneelawinen sind Spuren im Auslaufbereich ohne Einfluss.

Zusammengefasst sind ständig befahrenes Gelände oder frische Spuren allgemein ein positives Zeichen, dem aber nicht unreflektiert vertraut werden darf.

Entscheidungspunkte nutzen und sich taktisch klug verhalten

An Gefahrenstellen führten 29 % der Gruppen keine konkreten Maßnahmen zur Entscheidungsfindung durch. Lawinenentscheidungen am Einzelhang sind natürlich die Königsdisziplin, deren Kriterien jedoch oft nicht eindeutig. Ein Rückblick auf die Planung mit der Bewertung von probabilistischen Hilfsmitteln wie der DAV-SnowCard oder dem Skitourenguru ist hier ein guter Ausgangspunkt für eine Beurteilung. Für Schneedeckenuntersuchungen braucht es ein wenig Know-how und es ist nur teilweise möglich, aus ihnen konkrete Entscheidungen abzuleiten, aber sie erweitern generell das Wissen über die ablaufenden Prozesse innerhalb der Schneedecke.

Zu einer vollständigen Risikoabschätzung gehört es, zusätzlich die Konsequenzen eines Lawinenabgangs zu betrachten (z.B. Anzahl Betroffener, Länge und Größe der Lawinen, Geländefallen, Auslaufbereich, mögliche Verschüttungstiefe).

Die von uns befragten Gruppen begingen Gefahrenstellen zu häufig im Gruppenverband und vergaben so die Möglichkeit, das Auslöserisiko einer Lawine durch Entlastungsabstände und/oder die Konsequenzen einer Auslösung durch einzelnes Begehen zu senken (Panorama 6/2022). Mit einfachen Verhaltens- und Vorsichtsmaßnahmen und der Wahl sicherer Sammelpunkte kann in den meisten Fällen mit vergleichsweise geringen „Komforteinbußen“ zumindest der schlimmste Fall einer komplett verschütteten Gruppe vermieden werden. Denn auch bei den klarsten Lawinenentscheidungen bleibt letztlich immer etwas Unsicherheit. Ein gutes taktisches Verhalten ist daher ein wesentlicher Baustein eines klugen Risikomanagements.