Sinnvoll sichern auf Hochtour

Seil oder nicht Seil?

Hochtouren führen über Gletscher, durch Firn- und Eisflanken und Felsgelände. Dafür jeweils die optimale Sicherungsmethode zu finden, ist komplex. Florian Hellberg stellt die Optionen vor und erörtert Vor- und Nachteile.

Seil oder nicht Seil? Wie sichert man sich sinnvoll auf Hochtour? Illustration: Georg Sojer

Welche Gefahr ist die größte auf Hochtour? In eine verschneite Gletscherspalte zu fallen oder im steilen Firn oder Fels abzustürzen? Und welche Sicherungsmethode ist in der Situation die effektivste, um der Gefahr zu begegnen, ohne viel Zeit zu verlieren? Die Komplexität, diese Entscheidungen in ständig wechselndem Gelände schnell abzuwägen und souverän umzusetzen – kombiniert mit den objektiven Gefahren des Hochgebirges –, macht das Hochtourengehen zu einer der risikoreichsten Bergsportdisziplinen. In den letzten 18 Jahren sind auf Hochtour 119 DAV-Mitglieder ums Leben gekommen. Im gleichen Zeitraum sind in DAV-Kletterhallen acht Menschen tödlich verunfallt, obwohl die DAV-Mitglieder siebenmal mehr Zeit beim Hallenklettern verbringen als auf Hochtouren (Stand 2017). Dabei waren die häufigsten Ursachen für die tödlichen Unfälle von DAV-Mitgliedern auf Hochtour ungesicherter Absturz und Mitreißen. Ungesicherte Spaltenstürze spielen nur eine untergeordnete Rolle (s. Statistik am Ende des Artikels: Tödlich verunfallte DAV-Mitglieder auf Hochtouren).

Die Frage nach der optimalen Sicherungstechnik auf Hochtour ist nicht neu. Pit Schubert warnte schon in den 1980er Jahren vor der Mitreißgefahr bei gleichzeitigem Gehen am Seil. In Artikeln in „Bergundsteigen" diskutierten diverse  Experten den Anwendungsbereich dieser Methode; zuletzt plädierten Bruno Hasler und Kurt Winkler für mehr gleichzeitiges „Gehen am kurzen Seil“. Ein tragischer Mitreißunfall in den Zillertaler Alpen im Sommer 2017 mit sechs Toten unterstreicht die Aktualität dieser Diskussion.

Die große taktische Aufgabe auf Hochtour:

Spaltensturz-, Absturz- und Mitreißgefahr abzuwägen und eine angemessene und effiziente Sicherungstechnik auszuwählen. Die Hangneigung ist dabei ein wichtiges Kriterium.

Herausforderung: abwägen und eine angemessene und effiziente Sicherungstechnik wählen. Illustration: Georg Sojer

Grenzen der Gletscherseilschaft

Auf einem schneebedeckten flachen Gletscher ist wegen der Spaltensturzgefahr gleichzeitiges angeseiltes Gehen mit etwa zehn Meter Abstand die Sicherungstechnik der Wahl (siehe DAV Panorama 4/2014). Hierin besteht Einigkeit. Im Absturzgelände ist diese Sicherungstechnik fatal: Besonders wenn der Seilerste stürzt, ist es für das Team unmöglich, den Sturz zu halten, da der Stürzende zwanzig Meter Fahrt aufnimmt, bevor sich das Seil zu den anderen in der Seilschaft strafft. Wenn Absturzgefahr besteht, sind deshalb andere Sicherungstechniken notwendig.

Wann besteht Absturzgefahr?

Das hängt ab von Geländefaktoren (Steilheit, Form, Auslauf), menschlichen Faktoren (Gewichtsverhältnis, persönliches Können) und den Verhältnissen vor Ort (harter/ weicher Schnee, Eis, gute oder schlechte Spur).

  • Je härter und steiler die Oberfläche ist, umso schwieriger ist es, sich selbst (oder einen Seilpartner) zu halten, wenn man ins Rutschen kommt.

  • Ab 30° Grad Hangneigung beschleunigt ein Mensch auf hartem Schnee annähernd so schnell wie im freien Fall.

  • Im Aufstieg ist man deutlich weniger „fehltrittanfällig“ als im Abstieg.

  • Eine gute Spur ist ein deutliches Sicherheitsplus. Das Gehen ist leichter, man stürzt nicht so schnell und hat einen besseren Stand, um Seilzug halten zu können.

  • Trittsicherheit, eine solide Steigeisentechnik, ein vernünftiges Tempo und hohe Konzentration sind von zentraler Bedeutung. Gut sitzende Bergschuhe, scharfe und richtig angepasste Steigeisen und Beinbekleidung ohne Stolperfallen sind Voraussetzung.

Die „optimale“  Sicherungstechnik ist „ausreichend sicher“ für Situation und Team und schnell anzuwenden. Illustration: Georg Sojer

Sichern bei Absturzgefahr

Im Gelände mit Absturzgefahr gibt es mehrere Möglichkeiten zu sichern. Zur Auswahl stehen: das Sichern von Stand zu Stand, das gleitende Seil, das Sprungseil oder das gleichzeitige Gehen (also Sichern!) am kurzen Seil. Um zwischen absturzgefährlichen Passagen nicht zeitraubend das Seil verstauen zu müssen, kann man auch nur zum Seiltransport angeseilt bleiben. Ebenfalls ist es natürlich eine Möglichkeit, sich seilfrei ungesichert zu bewegen. Die „optimale“  Sicherungstechnik, die es anzustreben gilt, ist „ausreichend sicher“ für Situation und Team und schnell anzuwenden – samt Wechsel der Methode bei wechselndem Gelände.

1. Sichern über Fixpunkte (Stand zu Stand oder Fixseilraupe)

Diese Technik ist im schweren Fels oder Eis sinnvoll. In Zweier- oder Dreierseilschaft steigt einer vor, bei Bedarf mit Zwischensicherungen; in stark gegliedertem Gelände kann es sinnvoll sein, das Seil auf 20 bis 30 Meter zu verkürzen. Nachgesichert wird vom Standplatz aus, unter Umständen auch direkt am Körper, nämlich bei ausgezeichneter Standfestigkeit (etwa auf der anderen Seite des Grates stehend oder um einen Felsturm herum). Mit Seilweiche können auch zwei Nachsteiger gesichert werden; bei mehr als drei Personen ist die Fixseilraupe eine sinnvolle Alternative. Hier steigt der Seilschaftsführer bis zum Stand vor, die Nachsteiger sichern sich durch Prusik oder Seilklemmen am fixierten Seil. Beide Techniken bieten zwar große Sicherheit, sind aber zeitaufwendig – und das umso mehr, je weniger Übung man hat.

2. Gleitendes Seil mit Rücklaufsperre

Typischer Anwendungsbereich für diese Technik sind steile Blankeispassagen im Aufstieg. Der Seilschaftsführer steigt vor (möglichst die ganze Länge des Seils), hängt an einem (möglichst soliden) Fixpunkt eine Rücklaufsperre (z.B. T-Block - Achtung: richtig herum!) ins Einfach(!)seil und steigt weiter. Wenn das Seil aus ist, steigt der Nachsteiger (oder maximal zwei) gleichzeitig mit dem Vorsteiger nach oben; einen Nachsteigersturz hält die Rücklaufsperre - solange kein Schlappseil im Spiel ist - sicher. (Achtung: befindet sich der Nachsteiger nur noch wenige Meter unterhalb der Rücklaufsperre, dann darf kein Schlappseil und keine Pendelsturzgefahr im Spiel sein! Die Rücklaufsperre könnte sonst das Seil kappen, wenn nicht mehr genug Seildehnung zur Verfügung steht, um den Krafteintrag an der Rücklaufsperre zu dämpfen.)

Das gleitende Seil mit Rücklaufsperre geht schneller als das Sichern von Stand zu Stand, da man mit mehreren Rücklaufsperren auch weitere Strecken gleichzeitig klettern kann. Die Seilschaft muss das Gelände aber gut beherrschen. Denn die Technik kann nur den Totalabsturz verhindern.

3. Gleitendes Seil mit Zwischensicherung (mit verkürztem Seil)

Diese Technik taugt vorwiegend für einfache Felsgrate. Die (Zweier-)Seilschaft klettert gleichzeitig und zwischen den Seilpartnern ist immer mindestens ein Fixpunkt (besser: zwei!) als Zwischensicherung eingehängt oder das Seil um Geländestrukturen gelegt. Oft ist es sinnvoll, das (Einfach-) Seil auf 20 bis 30 Meter zu verkürzen oder ein Halbseil doppelt zu verwenden. Die Technik ist relativ schnell, besonders wenn beide Seilschaftsmitglieder vorsteigen können und dadurch – sobald das Material beim Vorsteiger aufgebraucht ist – einfach im Überschlag wechseln können. Das Gelände müssen beide ohnehin souverän beherrschen; auch diese Technik verhindert nur den Totalabsturz.

4. Sprungseil

Die Sprungseiltechnik kommt nur auf reinen Firngraten infrage. Beide Mitglieder der Zweierseilschaft haben jeweils fünf bis acht Meter Schlappseil in Schlaufen in der Hand und gehen gleichzeitig. Wenn einer vom Grat rutscht, springt der andere auf die gegenüberliegende Seite und verhindert so den Totalabsturz der Seilschaft. Die Schlappseilschlaufen stellen ihm ein paar Augenblicke Zeit zur Verfügung. Voraussetzung ist entschlossenes Handeln – und wenn Wechten Abstand von der Gratkante erzwingen, gehtʼs beim Spurt auf die andere Seite ums nackte Überleben.

Seiltransport

In Gelände, in dem ein Absturz unwahrscheinlich ist, kann lediglich zum Seiltransport angeseilt gegangen werden. So spart man sich zeitaufwendiges Aus- und Anseilen zwischen Passagen, in denen man sichert.

Gehen/Sichern am kurzen Seil

Bei dieser Technik gehen Führer und Geführter gleichzeitig, verbunden durch nur wenige Meter Seil. Gerät der Geführte ins Stolpern, muss der Führer bereits im Ansatz blitzschnell verhindern, dass daraus ein Sturz wird. In der Schweiz wird gleichzeitiges Gehen am kurzen Seil auch für Privatseilschaften gelehrt, in Deutschland und Österreich nur für Staatlich geprüfte Bergführer. Vor- und Nachteile werden unterschiedlich gewichtet, in folgenden Punkten besteht Einigkeit:

  • Der Seilerste darf nicht stürzen! Denn bis sich das Seil strafft, hat er so viel Fahrt aufgenommen, dass er unweigerlich die ganze Seilschaft mitreißt. Außerdem muss er dem Gelände jederzeit derart überlegen sein, dass er einer zusätzlichen äußeren Kraft widerstehen kann.

  • Ein Stolperer des Seilzweiten kann bei gleichzeitigem Gehen nur direkt im Ansatz gehalten werden. Wird ein Sturz daraus, dann ist es wahrscheinlich schon zu spät und der Seilschaftssturz droht!

  • Daraus ergibt sich, dass Schlappseil oder zu lange Seilabstände verheerend sind.

  • Ebenso steigt das Absturzrisiko bei gleichzeitigem Gehen mit mehr als zwei Seilschaftsmitgliedern enorm an.

Aus diesen Punkten folgern wir in Deutschland, dass diese Technik nur infrage kommt, wenn ein deutliches Leistungsgefälle in einer Seilschaft besteht und der Stärkere bereit ist, das für ihn höhere Risiko in Kauf zu nehmen. Es entsteht eine „Führungssituation“. In der Schweiz wird die beruhigende psychologische Wirkung des Seils stärker gewichtet – und dass bei seilfreiem Gehen die Hürde größer ist, in schweren Passagen zum Sichern über Fixpunkte zu wechseln. Man bedenke auch: Der Übergang von „angeseiltem Seiltransport ohne Sicherungsfunktion“ zum „gleichzeitigen Gehen am kurzen Seil mit Sicherungsfunktion“ ist fließend!

Seilfreies Gehen

Dem bewussten Verzicht auf ein Sicherungsseil liegt eine nüchterne Risikoabwägung zugrunde: Das Schadensausmaß ist reduziert, wenn nur eine Person ins Rutschen kommt. Und: Eine Person alleine hat immer noch Chancen, ihr Rutschen wieder zu stoppen. Wenn dagegen eine angeseilte Seilschaft mal Fahrt aufgenommen verheddern sich die Mitglieder im Seil und ziehen sich gegenseitig nach unten. Außerdem: Wenn nur einer abstürzt, dann gibt es noch jemanden, der einen Notruf absetzen und Erste Hilfe leisten kann. Hat man sich allerdings für das seilfreie Gehen entschieden, wächst dadurch die Hürde, später doch auf die Sicherung mit Seil umzustellen. So rumpelt man womöglich seilfrei in schwerere oder heikle Kletterpassagen oder in unvorhergesehene schwierige Stellen, wie etwa dünne Neuschneeauflage auf Blankeis. Oft wird dann alleine schon das Anseilen gefährlich, weil man ungesichert ausgesetzt im wilden Gelände steht. Ein weiterer Aspekt ist, dass sich Gruppen beim seilfreien Gehen leicht auseinanderziehen und der Sicherungsbedarf von einzelnen Gruppenmitgliedern nicht von allen wahrgenommen wird. Besonders stärkere Mitglieder sind dann vielleicht vorneweg – samt dem Seil in ihrem Rucksack …
Stärkere sollten für diese Problematik sensibel sein und eventuell das Seil im Abbund am Körper tragen, damit es zum Sichern griffbereit ist. Die Abwägung, wann seilfreies Gehen noch für alle im Team passt, ist nicht einfach. Sie erfordert realistische Selbsteinschätzung, Einfühlungsvermögen und offene, klare Kommunikation. Wie generell jede Entscheidung über angemessene Sicherungsmaßnahmen.

Zusammenfassung: sinnvolles und effizientes Sichern auf Hochtour

  • Im Absturzgelände mit Gletscherseilschaftsabständen oder mit Schlappseil unterwegs zu sein (Ausnahme: Sprungseil) ist ein „No-go“.

  • Empfehlenswerte Techniken für klassisches Hochtourengelände sind oft: gleitendes Seil, Sprungseil und Sichern vom Fixpunkt (evtl. mit verkürztem Seil).

  • Techniken wie Seiltransport, Gehen (Sichern!) am kurzen Seil oder seilfreies Gehen sollten nur sehr überlegt eingesetzt werden!

  • Die meisten Techniken eignen sich nur für Zweier- oder Dreierseilschaften; größere Gruppen sollten lang anhaltendes Absturzgelände meiden.

  • Die Gruppe muss sich einig sein über ihr akzeptiertes Restrisiko und die gewählten Sicherungstechniken.

  • Entscheidungskriterien dafür sind: Geländesteilheit und -ausgesetztheit, aktuelle Verhältnisse, persönliches Können und Tagesform, äußere Einflüsse.

Streitfragen

Die DAV-Unfallstatistik belegt: Auf Hochtouren (im vergletscherten Hochgebirge im Firn oder Eis, Felsgelände bis II und auf ausgesetzten Graten) ist Absturz die Haupt-Todesursache. Streitfrage: Was wäre passiert, wenn die Toten durch „ungesicherten Absturz“ angeseilt gewesen wären? Und die provokante Annahme dazu: Mit korrekten Sicherungsmaßnahmen hätten sie vielleicht überlebt; bei gleichzeitigem Gehen am Seil ohne echte Sicherung dagegen wären ihre Seischaftspartner wohl auch mit abgestürzt. Zweite Streitfrage: Wie viele Mitreiß-Tote waren unschuldige Opfer unzureichender Sicherung?

Tödlich verunfallte DAV-Mitglieder auf Hochtouren 2000 - 2017. Quelle: DAV

Zuerst erschienen in DAV Panorama 03/2018