Illustration zweier Männer beim Sichern
Risikokultur in Kletterhallen. Illustration: Georg Sojer
Risikokultur in Kletterhallen

Sicherheit gemeinsam schaffen

Auch beim Hallenklettern können Unfälle passieren. Müssen aber nicht: wenn sich alle Aktiven bemühen, informiert und gut zu agieren. Martin Schwiersch skizziert die Kultur einer Kletter-Community, die Sicherheit gestaltet, statt von Vorgaben und Restriktionen gesteuert zu werden.

Klettern ist ein entwickelter Sport: Er besteht seit weit über 100 Jahren, und seit jeher wird an Ausrüstung und Technik entwickelt und gefeilt. Das Sportklettern gab sich zwar ein neues Set von Regeln, übernahm jedoch im Wesentlichen die bereits bestehenden Sicherungstechniken. Der Schritt zum Klettern indoor war dann nur mehr klein, denn es lag ja schon alles bereit – es mussten nur noch die Hallen gebaut werden, die den Fels nachbildeten, wie man ihn von draußen kannte. Hallenklettern war somit Klettern „so wie draußen“, nur drinnen: eigenverantwortliches Handeln selbstständiger Seilschaften an fix angebrachten Sicherungspunkten und Umlenkungen.

Diese Selbstverständlichkeit wurde in den vergangenen Jahren brüchig: Kletternde und Verbände sahen sich vor die Frage gestellt, ob „dynamische Sicherungsgeräte“ noch empfohlen werden können, Hallenbetreiber wurden mit „Fallschutzböden“ konfrontiert. Klettern in der Halle sei eben nicht mehr das Klettern im freien, ungeregelten alpinen Raum. Statt nur mit alpinistischem Auge sollte es auch aus der Perspektive der Sicherheitstechnik betrachtet werden – und diese stelle die Unfallvermeidung durch Regeln und Verfahren an oberste Stelle: Immerhin seien regelmäßige Sicherungsmängel zu beobachten, und es würden auch Dritte gefährdet. Die Freiheit von Einzelnen und ein gewisser Widerwille, sich Regeln zu unterwerfen, könne keine Haltung in der Halle sein.

Diese Veränderungen veranlassten die Sicherheitsforschung des DAV, beim Expertensymposium „Risikokultur der Zukunft“ im Oktober 2014 auch das Hallenklettern zu thematisieren: Wie soll Hallenklettern betrieben werden? Wie gehen wir mit den Risiken um, die es dort gibt?

Hallenklettern ist kein Risikosport ...

Ein „Risikosport“ im landläufigen Sinn beinhaltet ein Risiko für Leib und Leben als zentralen Bestandteil der Tätigkeit, wird von einer Minderheit betrieben, und die Vermeidung seiner Risiken bringt keine Nachteile. Der „Mensch auf der Straße“ sieht Risikosport so: Das ist gefährlich, im Grunde überflüssig, und ein paar Extreme betreiben es. Sobald aber eine Tätigkeit mit Risiken, ob Sport oder nicht, tief gesellschaftlich verankert ist (wie Fußball) oder zum allgemeinen Lebensvollzug gehört (wie Autofahren) und die Vermeidung der Risiken mit Nachteilen verbunden ist (etwa Einschränkungen der Mobilität), wird sie nicht mehr als Risikotätigkeit eingeschätzt: Was viele machen, ist normal. Und da „Normale“ keine unnötigen Risiken eingehen, kann das, was sie machen, auch nicht riskant sein.

Überträgt man diese Perspektive auf unser Thema, lautet das Fazit: So viele Menschen gehen in Hallen klettern. Es kann also kein Risikosport mehr sein. Diese gesellschaftliche Veränderung des Hallenkletterns wirkt sich aus: Wenn ein Kletterer in eine Halle geht, geht er subjektiv (also „gefühlt“) kein Risiko für Leib und Leben ein. Er denkt sich nicht: „Hoffentlich komme ich hier lebend wieder raus“.

... aber ein Sport mit Risiken

Doch natürlich birgt das Klettern in Hallen Risiken. Grundsätzlich sind das vier: auf den Boden zu fallen (das zentrale Risiko), beim Klettern oder auch Sichern an die Wand zu prallen, mit eine stürzenden Person zusammenzuprallen und schließlich, von herabfallenden Gegenständen (oder auch Personen) getroffen zu werden. Diese Risiken sind offensichtlich und mit dem gesunden Menschenverstand leicht zu erkennen. Zudem ist das Absturzrisiko „bewehrt“ mit der natürlichen Angst vor Höhe: Die erste Angst beim Klettern ist die vor dem Absturz; die zweite, beim Sichern den*die Partner*in nicht halten zu können. Kurz: Man ist beim Klettern „natürlich“ motiviert, das zentrale Risiko auszuschalten.

Die Tücke – im Sinne des Eisbergs der Verhaltensfehler (DAV Panorama 6/14) – steckt im Detail: Wenn man beim Hallenklettern den dritten Haken überstreckt einhängt, läuft man Gefahr, die Sicherungskette aufzuheben. Man wird bei einem Sturz entweder auf den Boden stürzen oder mit der sichernden Person zusammenprallen oder beides. Wenn man glaubt, noch gesichert zu sein, während man das Seil hochzieht, kann man sich täuschen – und sie sichernde Person, die das Seil ausgibt, ebenfalls. Dies ist kein offensichtliches Risiko mehr; es muss gelehrt und verstanden werden. Dann kann man es bewusst eingehen.

Klettern und Sichern in Hallen muss gelernt werden, weil es nicht-offensichtliche Risiken beinhaltet. Und es kann gelernt werden, weil die gefährlichen Risiken beherrschbar sind. Nicht alle Risiken lassen sich ausschalten: Beim Sturz kann man sich an einer Wandstruktur verletzen oder auch hart abgefangen werden – das sind „akzeptierte Risiken“: Wer in Hallen klettert, akzeptiert dies als die Grundsituation, der man sich aussetzt.

(Eigen-)Verantwortlicher Umgang mit Risiken

Wer in der Halle klettert, darf also mit Fug und Recht behaupten, dass man zwar eine grundsätzlich gefährliche Tätigkeit ausübt, diese aber durch das eigene Handeln sicher macht. Man geht kontrollierbare Risiken ein. Klettern in Hallen ist kein Risikosport.

Daraus ergibt sich als Konsequenz für die Risikokultur: Da die Risiken durch richtiges Verhalten beherrschbar sind, liegt die „Managementzentrale“ bei den Kletternden und Sichernden selbst. Sie sind eigenverantwortlich, sich der Risiken bewusst zu sein und ihnen zu begegnen. Dies war auch Konsens beim DAV-Expertensymposium „Risikokultur der Zukunft“.

Hallenbetreiber und alpine Verbände müssen also nicht paternalistisch die Verantwortung für den Kletterhallengast übernehmen, der nicht selbst überblicken kann, dass Klettern gefährlich ist – vor- und fürsorglich, um ihn vor sich selbst zu schützen. Wer klettert, muss selbst dafür sorgen, sich entsprechend auszubilden.

Wer sichert, hat die Funktion eines Schutzengels. Illustration: Georg Sojer

Offene Kommunikation der Risiken

Dazu müssen die Risiken beim Hallenklettern klar formuliert werden. Die Botschaft an jemanden, der Klettern anfangen will, muss lauten: Klettern birgt Gefahren. Du kannst sie vermeiden. Durch gute Ausbildung, Achtsamkeit und gemeinschaftlich gelebte Verantwortung.

Da die meisten Menschen bei der ersten Konfrontation mit einer Kletterhalle zunächst mit natürlicher Angst reagieren, sind sie sensibel und motiviert, ihre Sache gut zu machen. Diese Phase gilt es zu nutzen! Mit der beschriebenen Botschaft kommt man ihnen entgegen. Wenn man einem Neuling aber durch eine kurze Einführung suggeriert, Sichern sei praktisch nur „Seilausgeben und -einnehmen und das Halten eines vorausgesehenen Minihupfers“, dann wird diese Phase verschenkt und die Person kann zur Fehleinschätzung gelangen, nun ihre Sache hinreichend gut zu können. Außerdem sinkt die Bereitschaft, die nun ja schon gewonnene Routine noch einmal zu prüfen. Neulinge im Grundkurs, aber auch langjährige Kletternde sollten zu Sicherungskursen motiviert werden, die auch Simulationen von Extremsituationen beinhalten (unerwarteter Sturz, Schlappseilsituationen, Stürze in Bodennähe – natürlich jeweils hintersichert).

Kletter-Kultur: Können, Tun und Miteinander

  • Gute Sicherung als Basis für schweres Klettern: Nur gut gesichert wird die Grenze zum Spielfeld. Wer sichert, ist Schutzengel der kletternden Person. Und nur gutes Sichern ist cool.

  • Die Sicherungspartnerschaft als Kerneinheit: Zum Team gehören zwei. Sicherheit ist die Aufgabe der Seilpartnerschaft. Davon profitieren beide.

  • Die Kletternden als aufmerksame Community: Schlechtes Sichern ist kein Kavaliersdelikt. Der*die Kletternde kann es nicht sehen. Gute Menschen schauen hin und sorgen füreinander.

  • Die Kultur in Kletterhallen selbst gestalten: Es liegt bei uns allen, ob Hallenklettern streng reguliert wird oder ein Erlebnissport bleibt für Eigenverantwortung und Gemeinschaftsgefühl.

Ausbildung anbieten und einfordern

Die Fähigkeit, mit den Risiken beim Hallenklettern verantwortlich umzugehen, wird durch Ausbildung erworben. Diese Ausbildung kann auch im Freundes- oder Bekanntenkreis geleistet werden – dann sollte man sich der Verantwortung jedoch bewusst sein.

Der Königsweg zum Klettern führt jedoch über eine formale Ausbildung. Diese gibt es schon, das Angebot sollte wie oben beschrieben verbessert und auch erweitert werden: nicht nur einmalige Ausbildungskurse für Gruppen, sondern auch „Klettertreffs“ mit Aufsicht und Beratung, Individualtrainings und Sicherungsupdates.

Wenn Ausbildung notwendig ist, dann darf sie umgekehrt auch eingefordert werden. Insbesondere der Ersteintritt in eine Kletterhalle sollte die Hürde beinhalten, dass man angeben muss, entsprechend ausgebildet zu sein.

Der gute Geist der Kletterkultur

Ausbildungskurse sind auch ein zentraler Ort, um weitere wünschenswerte Grundhaltungen dem Klettern gegenüber zu vermitteln.

  • Die erste Botschaft: Gute Sicherung ist die Basis für schweres Klettern. Im Grunde ist die sichernde Person „die Mutter“ der kletternden, sie hält über das Seil als Nabelschnur am Leben. Gute Sicherung ist selbstverständliche Voraussetzung für entspanntes Klettern – und vor allem bei ambitionierten Routen ist man darauf angewiesen. An die Grenze gehen kann man nur, wenn man sich gut gesichert weiß. Wer gut sichert, ist also bei der Sache und aufmerksam, indem man dafür sorgt, dass die kletternde Person beim Einhängen einer Zwischensicherung das notwendige Seil ohne Stocken oder Ruckeln bekommt, und man macht wirklich „zu“, wenn die kletternde Person „Zu“ ruft. Dazu muss man selbst nicht schwer klettern. Doch wer gut sichert, wird leicht Partner finden. Umgekehrt sollte die Community den Status eines "guten Kletterers" nicht mehr vergeben, wenn jemand zwar schwer klettern kann, aber beim Sichern unzuverlässig ist – oder überforderte Sichernde für sich „arbeiten“ lässt.

  • Die zweite Botschaft: Die Sicherungspartnerschaft als Kerneinheit. Die Zeiten der zusammengeschweißten Kletterseilschaft sind vorbei, und dass in Hallen jede*r mit jeder*m klettern kann, ist im Grunde eine tolle Sache. Während des Vorstiegs oder des Topropekletterns ist das Team jedoch weiterhin die Kerneinheit, in der Sicherheit hergestellt wird, so dass für diese Sicherungspartnerschaft durchaus ein gewünschtes Ideal beschrieben werden kann: Beide schauen aufeinander, etwa beim Partnercheck, besprechen gegebenenfalls Details der Route und Aufgaben der sichernden Person („hier schnell Seil geben, dort weich sichern“) und sorgen so beide für den Erfolg: wer klettert durch den Aufstieg, wer sichert durch gutes Sichern. Und in der nächsten Route geht es andersherum: Klettern in Hallen als ein Wechsel von Geben und Nehmen, von Unterstützen und Unter- stütztwerden.

  • Der dritte wichtige Punkt: Die Kletternden als aufmerksame Community. Die Seilschaft teilt sich den Raum „Kletterhalle“ mit anderen Seilschaften. Sie wird von anderen gesehen und wirkt auf diese ein. Eine Person beim Durchstieg einer schweren Route zu beobachten, kann begeistern und motivieren. Einer Person beim guten Sichern zuzusehen, ist zwar weniger beeindruckend, kann aber erhellend sein – umgekehrt ist eine schlecht sichernde Person schwer zu ertragen. Zu einer wünschenswerten „Kultur in Kletterhallen“ gehört, dass gutes Sichern cool, sexy, stark und damit eine unsichtbare Eintrittskarte in die Klettercommunity ist. Denn schlechtes Sichern ist kein Kavaliersdelikt. Und gutes Sichern kein Hexenwerk. Also gibt es keinen Grund, schlechtes Sichern zu tolerieren. Beim Klettern bekommt man nicht mit, was die sichernde Person tut, während er an der Wand unterwegs ist. Doch Nebenstehende können es sehen. Sie sollten sich aufgefordert fühlen, sich freundlich einzumischen und das Gespräch zu suchen. Niemand will schlecht sichern, oft ist die Person, die einen Hinweis erhält, erstaunt und erleichtert. Ich rede keiner „Wächtermentalität“ das Wort: Es sollte in einer Kletterhalle weiterhin erlaubt sein, von Standardvorgaben abzuweichen, beispielsweise die erste Zwischensicherung zu überklettern, um der sichernden Person mehr Bewegungsspielraum zu schaffen. Eine Kletterhalle darf aber kein Ort für Personen sein, die sich und andere gefährden – ob wissentlich oder unwissentlich. Denn die Gefährdung ist nicht Teil des Spiels. Und diese Forderung lässt sich auch durch Forschungsergebnisse begründen: Analysen der Sicherheitsforschung des DAV zeigen, dass Kletternde in Hallen, in denen weniger Verhaltensfehler begangen werden, mehr Rücksichtnahme und zuvorkommendes Verhalten erleben und auch mehr davon ausgehen, dass ihr Verhalten wahrgenommen wird, entweder durch aufmerksames Hallenpersonal oder dadurch, dass man sich wechselseitig kennt. Aufeinander schauen ist also nicht nur ein frommer Wunsch, sondern wirkt. Und an dieser gemeinschaftlichen Aufgabe können und sollten sich auch die Hallenbetreiber aktiv beteiligen – ohne sich der nicht einlösbaren Erwartung eines allgegenwärtigen „Bademeisters“ ausgesetzt zu sehen.

  • Damit ergibt sich die zusammenfassende Botschaft: Die Kultur in Kletterhallen selbst gestalten. Dies ist die gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten beim Hallenklettern. Dazu gehören die Kletterfachverbände, die Hallenbetreiber und die Hallenkletter*innen selbst. Sie eint ein Interesse: Klettern in Hallen als eigenverantwortliche Tätigkeit zu erhalten. Eine falsche Großzügigkeit gegenüber Verhaltensfehlern oder Beinaheunfällen wird auf lange Sicht die Bewegungsfreiheit durch Vorgaben einschränken, die geringen Unfallzahlen allein sind kein ausreichender Schutz vor Restriktionen. Wer in einer Halle klettert, handelt nicht nur für sich. Jede sicherheitsrelevante Handlung wirkt sich aus, da sie in einem Raum mit anderen Kletternden stattfindet. Wir erhalten unseren Bewegungsspielraum, wenn wir uns freiwillig Verhaltensregeln in Hallen beugen, sicherungsbezogene Verhaltensfehler unterlassen und darauf achten, dass auch andere dies tun. Paradoxerweise erhalten wir unsere Eigenverantwortung gerade dann, wenn wir auch Verantwortung für andere übernehmen und zulassen, dass diese – oder auch das Personal in der Halle – sich auch um uns kümmern. Dadurch gestalten wir die Kultur in der Halle. Und weil es unser ureigenes Interesse ist, niemandem zu schaden und selbst unversehrt zu bleiben, wird dies ja bereits täglich tausendfach praktiziert.

Der Beitrag erschien in DAV Panorama 3/2015, S. 68-71.