Sarntaler Hufeisentour: Aufstieg vom Latzfonser Kreuz zur Kassianspitze
Schöne Aussichten gibt es beim Aufstieg vom Latzfonser Kreuz zur Kassianspitze (2581 m) über dem gleichnamigen See. Foto: Alix von Melle
Mehrtagestour in Südtirol

Sarntaler Hufeisentour

Wer ruhige Bergregionen spektakulären Gipfelzielen vorzieht, kommt in den Sarntaler Alpen nördlich von Bozen auf seine Wanderkosten. Und genießt dafür die Aussichten auf umso prominentere Gebirgsgruppen.

Glück gehabt – gerade noch geschafft: Schon landen die ersten dicken Regentropfen auf den Holztischen vor der Hütte und wenig später peitschen Windböen den Regen gegen die Fensterscheiben. Dumpfer Donner grollt über den Sarntaler Bergen, grelle Blitze zucken aus der schwarzgrauen Wolkenwand. Gebannt verfolgen meine Freundin Sabine und ich das Naturschauspiel von der sicheren, warmen Gaststube aus. Die Flaggerschartenhütte auf knapp 2500 Metern ist die höchstgelegene Unterkunft auf der Hufeisentour. Für die Wirte Maura und Mauro aus Tiers am Rosengarten ist der Sommer 2019 die erste Saison auf der Hütte. „In den Sarntaler Bergen ist es viel ruhiger als bei uns in den Dolomiten“, sagt Maura. Die beiden haben sich bewusst für diesen Platz entschieden, für dieses kleine Berghaus, auf dem die Uhren noch ein wenig langsamer ticken und wo auch einmal Zeit für ein Gespräch mit den Gästen bleibt. Mauros Leidenschaft ist das Kochen, wir kommen in den Genuss von selbst gemachter Marmelade, frisch gebackenem Brot und italienischem Risotto.

Mystisch wie ein Märchenwald

Mit einem Glas rubinrot leuchtendem Lagrein stoßen wir auf Sabines 50. Geburtstag an und lassen den Tag Revue passieren: ein Bergwald, in dem die Sonne alles lebendig macht. Hellgraue Flechten, die den Nadelbäumen das mystische Aussehen eines Märchenwalds verleihen. Stille Hochtäler, in deren weiten Böden sich die Bäche durch die Wiesen schlängeln. Ein endloses Meer blühender Alpenrosen und auf den Hochflächen weidende Haflinger. Das gleichmäßige Gebimmel der Ziegenglocken, das uns bei jedem Schritt und Tritt begleitet und fast meditativ wirkt. Das schrille Pfeifen der Murmeltiere. Es sind diese Momente einer Bergidylle, in der alle Elemente im Einklang miteinander zu sein scheinen.

Nicht mehr weit ist es bis zum Schutzhaus Latzfonser Kreuz. Foto: Alix von Melle

Am nächsten Morgen ist der Spuk des Unwetters vorbei, die Luft reingewaschen. Im türkisblauen Flaggersee spiegeln sich die weiß-blauen Fensterläden der Hütte. Die Rucksäcke sind gepackt, wir verabschieden uns von den sympathischen Wirtsleuten und ziehen weiter Richtung Süden; das Schutzhaus Latzfonser Kreuz ist unser nächstes Tagesziel. Vorher aber wollen wir einige Gipfel der Sarntaler Alpen besteigen und wählen die Kammüberschreitung der Jakobsspitze und des Schrotthorns. Belohnt werden wir mit einem atemberaubenden Panorama auf die umliegende Berg-Prominenz der Dolomiten, der Brentagruppe und des Ortlergebiets.

Die Sarner gelten in Südtirol als besonderer Menschenschlag, ausgestattet mit viel Humor und Schlagfertigkeit, Neuem gegenüber zurückhaltend, doch sehr gastfreundlich.

Ein weißer Saum ziert den Horizont im Norden – die Schneeflanken der Zillertaler Alpen. Der Anstieg zur Fortschellscharte und der Weiterweg zum Latzfonser Kreuz ziehen sich am Nachmittag ein wenig in die Länge. Unsere Beine werden langsam müde, der Rucksack drückt auf den Schultern. Als wir um den Fuß des Ritzlars herumwandern, taucht plötzlich im Nebel das Schutzhaus Latzfonser Kreuz wie aus dem Nichts auf. Die daneben liegende kleine Kapelle ist bis heute ein gern besuchter Ort, um Bitten und Wünsche vorzubringen. Herzlich werden wir auf der Hütte empfangen. Die Sarner gelten in Südtirol als besonderer Menschenschlag, ausgestattet mit viel Humor und Schlagfertigkeit, Neuem gegenüber zurückhaltend, doch sehr gastfreundlich.

Nebelschwaden umgeben das Schutzhaus Latzfonser Kreuz und die kleine Kapelle bei der Ankunft. Foto: Alix von Melle

So eigen wie die Menschen ist das Gebirge rundherum. Eine Berglandschaft, der markante Formen und große Namen fehlen, deren Ausstrahlung sich aber kaum jemand entziehen kann. Viele Sagen ranken sich um das Gebirge: Wetterhexen beschwören heftige Unwetter herauf, feenartige Jungfern bezirzen Hirten und Bauern, Knappen, die der plötzliche Goldsegen über die Stränge schlagen lässt, müssen ihren Übermut teuer bezahlen. Da ist es vielleicht auch kein Zufall, dass Alois Theodor Sonnleitner das Sarntal als Schauplatz von „Die Höhlenkinder“ gewählt hatte – der Jugendbuch-Klassiker hat Sabine und mich in unserer Kindheit verzaubert. Er erzählt die Geschichte der beiden Waisenkinder Eva und Peter, die im „Heimlichen Grund“ mutterseelenallein, ohne jegliches Werkzeug und ganz auf sich selbst gestellt leben. „Das kleine Hochtal gestern, mit der unbewohnten Alpe im Talgrund am Bach. Genau so stellte ich mir die Entrücktheit der Bergwelt immer vor, in der die Kinder ohne Kontakt zur Außenwelt aufwuchsen“, schildert Sabine mir ihre Eindrücke. Und ich erinnere mich daran, was ich in Wikipedia nachgelesen hatte: „Aus den geographischen, geologischen und astronomischen Andeutungen ließ sich schließen, dass Sonnleitner seinen ‚Heimlichen Grund‘ in den Sarntaler Alpen gedacht hat“.

Entspannte Zeitgenossen ruhen auf dem Getrum-Höhenweg. Foto: Alix von Melle

Die Route der Sarntaler Hufeisentour umrundet in sieben Tagesetappen hufeisenförmig das Südtiroler Sarntal, vorbei an satten Wiesen und Almen, über Gipfel und Joche und auf wenig begangenen und naturbelassenen Pfaden. Und sie beschert uns so manchen Glücksmoment: Immer wieder bieten sich traumhafte Blicke zum Unesco-Weltnaturerbe, den Dolomiten. Berühmte Gipfel fehlen in der Abgeschiedenheit der Sarntaler Alpen, dafür sind die Hütten gemütlich und Einsamkeit ist garantiert. Die klassische Hufeisentour startet in den östlichen Sarntaler Alpen und ist von mehreren Talorten aus erreichbar.

Berühmte Gipfel fehlen in der Abgeschiedenheit der Sarntaler Alpen, dafür sind die Hütten gemütlich und Einsamkeit ist garantiert.

Kammwanderung über vier Gipfel

Im westlichen Teil gibt es auf der fünften und sechsten Etappe leichtere, auch für Familien geeignete Varianten. Im östlichen Teil kann man zwischen der Flaggerscharten-Hütte und dem Latzfonser Kreuz aussichtsreicher über Jakobsspitze und Schrotthorn wandern. Beim Latzfonser Kreuz sollte man sich die Vier-Gipfel-­Kammwanderung über den Getrum-­Höhenweg nicht entgehen lassen. Während der Norden der Sarntaler Alpen der wildere und unberührteste Teil des Gebirges ist, sind die südlichen Ausläufer eher sanft.

Hochgelegen ist der Kinigadner Lahner. Foto: Alix von Melle

An die Hüttenmauer gelehnt, wärmt uns die Spätnachmittagssonne. Bei Cappuccino und Buchweizentorte können wir uns kaum sattsehen an den markanten Felszacken der Dolomiten jenseits des Eisacktals. Sie scheinen zum Greifen nah und sind immer wieder Blickfang auf der gesamten Tour. Als die Sonne um die Hauswand herum verschwindet, ist es nicht nur die abendliche Kühle, die uns in die warme Hütte zieht – aus der Gaststube tönen musikalische Klänge. Stefan, der Koch auf dem Schutzhaus Latzfonser Kreuz, spielt Ziehharmonika. Gäste und Einheimische lauschen ihm und lassen sich von seiner Musik verzaubern. Genauso begeistert er uns mit dem Abendessen: Gerstensuppe, Brennnessel-Knödel und Schwarzplenten Riebl (Buchweizenschmarrn) – ein Südtiroler Festmahl in der Abgeschiedenheit der Berge. Als wir am Ende unserer Tourenwoche in die quirlige Altstadt von Bozen eintauchen, um unsere Heimreise anzutreten, klingen die Glücksmomente der Sarntaler Hufeisentour noch lange nach: die Stille der vergangenen Tage, die ursprüngliche, einsame Berglandschaft und die gemütlichen Hütten, auf denen wir mit kulinarischen Köstlichkeiten der Südtiroler Küche verwöhnt wurden.