Wandergruppe geht im Dreiländereck Albanien, Kosovo, Montenegro bergab
Abstieg vom Mt. Trekufiri im Dreiländereck Albanien, Kosovo, Montenegro. Von der Grenze geht´s hinab nach Babino Polje in Montenegro. Foto: Sascha Mache
Trekking zu den „Peaks of the Balkans“

Abenteuer inklusiv

Auf mehreren Touren in den Alpen und Mittelgebirgen haben sich Menschen mit und ohne Behinderung auf eine Tour im Dreiländereck Albanien-Montenegro-Kosovo vorbereitet. Und vor Ort gemeinsam Grenzen überwunden.

Es ist erst 17 Uhr und doch dunkelt es. Sturmböen schieben Gewitterwolken vor die Sonne, der Wind peitscht durch den Hohlweg zum Peja-Pass und lässt unsere Jacken knattern. Gerade bewunderten wir noch das Horn des Arapi-Gipfels, dessen bleiche Felswände einen Kilometer westlich imposant aufragen, jetzt heißt es nur schnell die Regensachen überziehen. Es ist Tag zehn unserer inklusiven Trekkingtour in der Region des Fernwanderwegs Peaks of the Balkans (POB). Wir wollen unsere Zelte heute bei den Schafhirten auf der Alm Gropa Bukura aufschlagen, unsere letzte Nacht unter freiem Himmel. Viel fehlt nicht mehr, aber diese längste Etappe der Tour fordert uns auch am meisten ab. Nach knapp tausend Höhenmetern Auf- und genau so viel Abstieg haben einige genug, einem Gruppenmitglied schmerzen die Knie bei jeder Bewegung, einem anderen fallen durch die Multiple Sklerose (MS) die Schritte immer schwerer. Wir nehmen uns die nötige Zeit und allen Willen zusammen. Das Gewitter zieht zum Glück vorbei, doch die rutschigen Steine nach dem kurzen Regen kosten die müden Beine zusätzlich Kraft. So brauchen wir für die letzten anderthalb Kilometer nochmal eine Stunde, dann haben wir es geschafft, alle gemeinsam. Müde und glücklich sitzen wir kurz darauf in der Dämmerung beim selbstgekochten Couscous vor den Zelten. Die Gesichter strahlen: voller Stolz über die eigene Leistung und dankbar für die unvergesslichen Eindrücke.

Geschafft: angekommen am Jezerce-Pass zwischen Montenegro und Albanien Foto: Sascha Mache

Berge gemeinsam erleben

Im September 2022 zeigt der Alpenverein mit dem inklusiven Trekkingprojekt durch Albanien, Montenegro und Kosovo beispielhaft, was Menschen mit und ohne Behinderung im Bergsport gemeinsam erleben können. Nach einer inklusiven Alpenüberquerung 2018 sind wir nun jenseits von Overtourism und ausgetretenen Pfaden unterwegs. Von den acht Teilnehmenden hat die Hälfte eine Behinderung: von Geburt an oder durch einen Unfall, durch chronische Erkrankung oder Krebs, sichtbar oder unsichtbar. Mit diesem Pilotprojekt loten wir aus, was gemeinsam möglich ist: Welche Anpassungen braucht es, damit Menschen mit Behinderung in der Gruppe Bergerlebnisse finden, die sie sich allein nicht zutrauen können oder wollen?

Durchnässt, aber glücklich am Gjeravica (2656m), dem höchsten Berg des Kosovos. Foto: Sascha Mache

Die Königsetappe unter den Wänden des Arapi vereint die intensiven Erfahrungen, die wir beim Bergsteigen im Nationalpark Theth in den Albanischen Alpen machen. Kaum zu fassen, dass die höchsten Gipfel der Bergkette gerade einmal gut zweieinhalbtausend Meter hoch aufragen, die Dimensionen wirken weitaus gewaltiger. Zwischen dem makellosen Blau des Himmels und den mildgrünen Wiesen und Wäldern in den Talböden ahnen wir nur die Schroffheit, die der Region ihre albanische Bezeichnung eingebracht haben mag: Bjeshkët e Nëmuna, „verfluchtes Gebirge“. Für uns sind es heute eher verwunschene Berge, wir wandern durch ein wildromantisches Märchenland. Und das haben wir ganz für uns allein. Sieben Frauen und ein Mann nehmen an der Tour teil und werden von zwei Personen vom Alpenverein und Kushtrim, unserem Local Guide, geführt. Über eine lokale Agentur ist er seit Jahren als Führer in der Region unterwegs, häufig für den DAV Summit Club. Für unsere Gruppe haben wir gemeinsam ein besonderes Programm ausgearbeitet. Wo möglich ergänzen wir Abschnitte auf dem Weitwanderweg Peaks of the Balkans mit alternativen Routen. So auch heute, unterwegs über einsame Steige und Pässe unterhalb des höchsten Gipfels in Albanien, dem 2694 Meter hohen Jezerca – die reguläre Etappe des POB nimmt tausend Meter tiefer den Weg durchs Runicës-Tal.

Inklusion im DAV

Echte Teilhabe geht über ein bloßes Mitmach-Angebot (Teilnahme) hinaus. 2014 haben DAV und JDAV das Positionspapier „Inklusion leben!“ verabschiedet, seitdem wächst kontinuierlich ein vielfältiges Angebot in zahlreichen Sektionen. Das inklusive Trekkingprojekt „Peaks of the Balkans“ ist ein Projekt des DAV-Bundesverbands, der ebenfalls das Projekt Alpen-Leben-Menschen mitinitiiert hat.

alpenlebenmenschen.de

alpenverein.de/bergsport/inklusion

Solche Abstecher in die wilde Berglandschaft erfordern Ausdauer. Für unsere Gruppe wäre die Tour ohne die Unterstützung von Packpferden nicht zu schaffen. Weit voraus sind sie mit unserem großen Gepäck und der Campingausrüstung auf breiteren Wegen deutlich schneller als wir. Außerdem war uns neben dem individuellen Unterstützungsbedarf von Teilnehmenden auch die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort wichtig. Die Bevölkerung der Täler soll über Einkünfte aus sanftem Tourismus eine Zukunftsperspektive erhalten, das war schon 2011 die Idee hinter der Eröffnung des POB-Weitwanderwegs. Die Beschäftigung von Locals beim Transport und der Logistik ist neben den Einkünften für die Gastgeber an den Übernachtungsorten im Tal ein Beitrag zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der Menschen.

Rund 200 Kilometer durchs Dreiländereck

Auf zehn markierten Etappen führt der POB auf insgesamt 192 Kilometern durch Albanien, Kosovo und Montenegro. Die Strecke war für uns innerhalb unserer Reisezeit zu lang, deshalb verzichteten wir im Norden auf einige Abschnitte im Kosovo. Dafür konnten wir eine Besteigung des höchsten Berges des Landes versuchen: Im Dauerregen erreichte ein Sechserteam nach einem fordernden Aufstieg den 2656 Meter hohen Gjeravica. Bei dieser und anderen Extratouren gab es je nach individueller Tagesform immer auch ein passendes Alternativprogramm. Alpinistische Erfahrung, Technik und Ausdauer waren in der Gruppe ganz unterschiedlich verteilt. Dementsprechend waren die Wünsche für Umfang und Schwierigkeit der Tagesetappen ganz verschieden. An einigen Tagen mit Streckenwanderungen von einer Unterkunft zur nächsten blieb die ganze Gruppe zusammen, auf anderen Abschnitten gab es zwei Routen zur Auswahl. Je nach Tag und Charakter der beiden Touren fanden sich jeweils unterschiedliche Teams zusammen. Während manche aus der Gruppe jeden Gipfel mitnahmen, entschieden sich andere mal für den Weg über Höhen und mal durchs Tal, um dort die Dörfer und ihre Landwirtschaft, eine in Stein gefasste Quelle oder einen Friedhof zu erkunden.

Der Arapi, das „Matterhorn Albaniens“, ist eine der prominentesten Felsformationen des Gebirges. Foto: Sascha Mache

Alle Teams, die so entstanden, waren „inklusiv“ in dem Sinn, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam unterwegs waren. Wo es nötig war, gab es physische Hilfestellungen, viel wichtiger war aber die Motivation aus dem Gruppengefühl heraus: eine psychische Stütze aus dem Wissen, gemeinsam etwas schaffen zu können. Insbesondere für die Teilnehmerinnen mit chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Durchblutungsstörungen war ein der Tagesform angepasstes Programm und eine achtsame Gruppe, die aufeinander schaut, die wichtigste Unterstützung. Trotz der anstrengenden Wanderungen konnten so alle die komplette Tour mitgehen – ein Riesenerfolg!

Die Reise zu den Peaks of the Balkans hätte schon 2021 stattfinden sollen, aber genau zum Projektstart mit den geplanten Vorbesprechungen und Vorbereitungen brach die Covid-19- Pandemie aus, sie verzögerte und komplizierte alles. In den langen Monaten der Pandemie mussten leider vier Personen ihre Teilnahme beenden, aus persönlichen Gründen oder weil sich ihr Gesundheitszustand in der Zeit zu stark verschlechterte. So waren zu Beginn drei Personen mit Multipler Sklerose dabei, nur eine von ihnen konnte schließlich die Tour mitgehen. Umgekehrt half unser Trekkingprojekt wiederum, die psychischen Tücken der Pandemie zu überstehen: Das Ziel der gemeinsamen Reise war Ansporn, sich auch aus tiefen Krisen wieder herauszuarbeiten. 2021 waren wir im Bayerischen Wald unterwegs, als Alternative, weil eine Reise ins Ausland unmöglich war. In der Rückschau betonen viele, wie glücklich sie sind, dass wir gemeinsam durchgehalten haben und dank der Unterstützung des Alpenvereins schließlich alle Hindernisse überwinden konnten.

Im Gebirge übernehmen Packpferde den Transport von Ausrüstung und Essen. Foto: Sascha Mache

Logistisch war die Tour mit den Nächten im Zelt im Hochgebirge eine Mammutaufgabe. In einem Gebiet, wo es oft keine Mobilfunkabdeckung gibt, war es außerdem wichtig, dass alle für ihre jeweiligen Erkrankungen und denkbare Komplikationen Medikamente bei sich hatten. Und da es in der Region keine organisierte Bergrettung gibt, war zur Sicherheit eine angehende Ärztin Teil des Teams. Dank dieser sorgfältigen Planung wurde für die Teilnehmerinnen mit Behinderung eine Tour möglich, die sie sich noch gar nicht oder seit ihrer Erkrankung nicht mehr zugetraut hatten. Die Teilnehmerin mit MS brachte es nach der Rückkehr auf den Punkt: „Das war die Reise meines Lebens!“ Die starken Bilder werden lange haften bleiben: der Bärenkot am Wegrand auf der ersten Etappe, das Wasser, das der nächtliche Gewittersturm in unser Lager im Bauernhaus drückte, die Unmengen an frischem Schafskäse, Gemüse und anderen Köstlichkeiten, die wir jeden Abend mit Blick auf die Schönheit der Berge serviert bekamen. Ein albanisches Wort haben alle in der Gruppe gelernt: „faleminderit“ – danke!

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