Selfie-Location Zugspitzgipfel
Zugspitzgipfel mit Schlange für den Selfie-Moment. Die sozialen Medien haben vor allem an Modezielen ganz neue Probleme geschaffen. Foto: Andi Dick
20 Jahre Tirol Deklaration

Neue Regeln braucht der Berg?

Wie frei darf sie sein, die "Freiheit der Berge"? Braucht das gute Miteinander von Menschen und Natur nicht auch Regeln? Vor genau 20 Jahren versuchte die "Tirol Deklaration", dazu eine Selbstverpflichtung vorzuschlagen. Wäre es heute Zeit für ein Update?

Auf den Bergen wohnt die Freiheit? Naja. Natürlich hat jeder Mensch die Freiheit, beim Free Solo tödlich abzustürzen. Aber wenn es um die nächtliche Störung des Raufußhuhns geht, ums Zuparken der Bauernwiese oder ums Einhalten der Hüttenreservierung, dann muss Freiheit durch die Verantwortung ergänzt werden, die das DAV-Leitbild ihr zur Seite stellt, sonst hat die Freude ein Loch.

2002 wurde das gefühlte gemeinsame Wertefundament des Alpinismus in einen Verhaltenskodex gegossen.

Ende der 1990er Jahre eskalierten einige Diskussionen und Konflikte – etwa um Bohrhaken in Alpinklettereien oder um Hilfeleistung bei kommerziellen Expeditionen. Und Robert Renzler, Generalsekretär des ÖAV, und Nicho Mailänder, beim DAV aktiv für Klettern und Naturschutz, realisierten ein nie dagewesenes Projekt: Rund 150 der weltbesten Kletterinnen und Alpinisten plus Alpenvereinsfunktionäre trafen sich vom 6.-8.September 2002 in Innsbruck zum Kongress "Future of Mountain Sports", um das gefühlte gemeinsame Wertefundament des Alpinismus in einen Verhaltenskodex zu gießen. Sie diskutierten und verabschiedeten die "Tirol Deklaration", die unter dem Motto "stretch your limits, lift your spirits and aim for the top" sieben Appelle an die Bergsport-Gemeinschaft richtete und zehn Artikel mit "Maximen" und Leitlinien für gutes Verhalten formulierte – auf der Grundlage folgender "Hierarchie von Werten": Würde des Menschen – Leben, Freiheit, Glück – Intaktheit der Natur – Solidarität – Selbstverwirklichung – Wahrheit – Leistung – Abenteuer.

Eine Selbstverpflichtung der Aktiven für ein gutes Miteinander – leider praktisch ohne Wirkung

Eine Selbstverpflichtung der Aktiven für ein gutes Miteinander – leider "praktisch ohne Wirkung" in der Realität, wie Mailänder und Renzler heute urteilen. Über die Gründe dafür kann man viel spekulieren. Haben die Alpenvereine sich zu wenig für Verbreitung und Akzeptanz eingesetzt? Ist ein quasi "von oben herab" entwickeltes Regelwerk zu elitär, wie manche Kritiker anmerkten? Wirkte der angelsächsisch strenge Artikel zur Sanierung von Alpinklettereien zu abgehoben und zog den Rest mit hinab? Dabei hätte die Tirol Deklaration (TD) auch für viele heutige Fragen gute Leitlinien geliefert.

  • Beispiel Skibergsteigen umweltfreundlich: Am Spitzing hatte das Erfolgsmodell Akzeptanzprobleme, Regelungen mussten verschärft werden – und Infoschilder wurden sabotiert. TD Artikel 7: "Wir respektieren die … vereinbarten Regelungen…".

  • Beispiel Wandern/(E-)MTB: Der Raumnutzungskonflikt eskaliert weiter, bis hin zu Draht- und Nagelfallen. TD Artikel 3: "Wir sind allen Menschen … das selbe Maß an Respekt schuldig".

  • Beispiel Blockierungen, das heutige Hauptproblem auf Klettersteigen – TD Artikel 1: "Bergsteiger und Kletterer … betreiben diese Aktivität in eigener Verantwortung und sind selbst für ihre Sicherheit zuständig".

Probleme wie Felssperrungen gab es auch vor 20 Jahren schon. Foto: Andi Dick

Natürlich könnte man sagen: Wenn gesunder Menschenverstand, Verständnis und Rücksicht überall perfekt wären, hätte es die Tirol Deklaration nicht gebraucht. Und vieles läuft ganz ordentlich im alpinen Miteinander. Andererseits hat allein der DAV heute doppelt so viele Mitglieder wie 2002; hat die Coronawelle den Overtourismus noch verschärft; schaffen die Digitalisierung des Bergaufenthaltes und die Verantwortung für Klimaschutz ganz neue Probleme, für die es keine Patentlösungen gibt. Wie viele Bohrhaken am Berg stecken und ob man Drahtseile und E-Motoren als Fortbewegungshilfen nutzt, ist dabei weniger relevant, als die Ziele, dass man selber fit und gesund bleibt, keine anderen Menschen geschädigt werden und die Natur intakt bleibt. Und dafür braucht es Regeln, auch wenn sie mal die ungebremste Freiheit einschränken sollten.

Braucht es eine Tirol Deklaration 2.0?

Wäre es also Zeit für ein "Update" der Tirol Deklaration? Je mehr Menschen zum Bergsport in den begrenzten Raum Alpen drängen, desto wichtiger werden neben gesetzlichen Regelungen auch freiwillige Selbstverpflichtungen, um künftige schärfere Regulierungen zu vermeiden. Einen solche zeitgemäßen Codex zu erarbeiten, wäre als Aufgabe den Alpenvereinen auf den Leib geschneidert. Doch um keinen Papiertiger zu züchten, wäre darüber nachzudenken, wie man alle Interessengruppen angemessen hören und beteiligen kann: Aktive im Bergsport, Politik, Tourismus, Einheimische, Forst- und Almwirtschaft, Medien. Denn ein gemeinsam erarbeitetes Leitbild bietet eine bessere Chance, beachtet und befolgt zu werden, vor allem, wenn es mit wirksamer Öffentlichkeitsarbeit überall präsent ist.

Doch egal, ob eine Tirol Deklaration 2.0 kommt, vielleicht zum 25. Jubiläum: Bis dahin steht es jedem von uns frei, sich etwa am F.U.N.-Prinzip (freundlich – umsichtig – nachhaltig) zu orientieren oder an Mitmenschlichkeit, Respekt und Anstand. Hauptsache, man tut es. Und gerne darf man auch andere dazu motivieren.

Zum vollständigen Text der Tirol Deklaration.

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