Mann mit Bike auf den Schultern läuft Berg hoch
Der Tête de Fréma ist der „geheime“ Klassiker unter den Mountainbike-Locals. Den Gipfel erreicht man vor allem tragend und schiebend. Foto: Stefan Neuhauser
Dreitausender in den Alpes de Haute Provence

Mit Bergradl und Kletterzeug

Wir lieben die Berge mit all ihren Facetten. Uns geht es nicht um höher schneller weiter, unser Fokus liegt viel mehr auf dem ganzheitlichen Bergerlebnis. Manchmal muss man dazu auch unterschiedliche Disziplinen wie Biken und Bergsteigen oder Klettern verbinden – wenn sich das Gelände dafür anbietet.

Wir haben uns dafür die Gegend um das Refuge de Chambeyron in den Alpes de Haute Provence ausgesucht. Dieses Relikt aus den 1970er Jahren ist ein Beispiel für eine einfache Berghütte, auf der man jedoch gut versorgt wird. Die beiden Hausgipfel Brec de Chambeyron (3389 m) und Aiguille de Chambeyron (3412 m) wollen wir mit dem Mountainbike angehen. Ohne Stress machen wir uns am frühen Nachmittag von Fouillouse auf den Weg zur Hütte. Die gut gepackten Rucksäcke in Kombination mit dem Rad wiegen schon was, umso schöner ist es, diese am blaugrün schimmernden Lac Premier unweit des Refuge du Chambeyron abzulegen. Einfach nix tun und diese wunderschöne Bergkulisse auf sich wirken lassen. Ein Traum.

Einen Eindruck der Bike-Aktionen der Autoren gibt's bei Bergauf-Bergab – hier waren sie unterwegs vom Mont Blanc bis Briancon:

Steinschläge und neue Pläne

Die Räder schiebend erreichen wir am nächsten Morgen den Col de la Gypiere. Erst hier oben können wir die nord- und ostseitigen Rinnen und Felsbänder mit dem Fernglas einsehen. Unsere Aufstiegsroute würde durch die Ostflanke verlaufen. Am Aussichtspunkt angekommen, hören wir es schon scheppern. Steinschläge in der Wand, dazu noch der Regen der letzten Nacht, der die Altschneedecke komplett aufgeweicht hat. Das ist es nicht wert, die Verhältnisse sind nicht optimal und das Risiko zu groß, um den Brec de Chambeyron über den Normalweg zu besteigen. Wir sind einfach zu früh im Jahr dran, schade. Ein zweites süßes Frühstück ruft. Die kleine Pause tut richtig gut. Nach dem selbstgebackenen Kuchen kommt unsere Motivation wieder voll in Fahrt. Wir entscheiden uns, das Ziel zu wechseln und den Nachbargipfel, die Pointe d'Aval (3320 m), mit dem Bike zu besteigen. Er ist unkompliziert, schneefrei und bis auf wenige Meter am Gipfel durchgängig mit dem Bike zu befahren. 800 Höhenmeter müssen wir das Bike hochtragen, belohnt werden wir mit nicht zu beschreibenden Bergblicken. Ein 360-Grad-Panorama. Unbeschreiblich, diese Weite! Mir fallen nicht eine Handvoll Gipfel in den Alpen ein, die man von dieser Höhe komplett mit dem Bike abfahren kann. Unzählige Kehren und Kurven schlängeln sich wunderschön durch die Gipfelflanke, ehe man mit hoher Geschwindigkeit auf einer Hangkante entlang surft! Im Anschluss springen wir bei der Hütte in den See.

Am Gipfel der Pointe d'Aval ist Trittsicherheit von Vorteil. Foto: Eric Haufe

Der Tête de Fréma, der „geheime“ Klassiker unter den Mountainbike-Locals, ragt mit 3151 Metern über Null in die Höhe. Heute lassen wir Gurt und Seil gleich an der Hütte. Vorbei geht es am Lac des Neuf Couleurs Richtung Gipfel. Diesen erreichen wir tragend und schiebend, dann werden wir mit atemberaubenden Blicken ins Valle Maira und hinüber bis zum Monte Viso belohnt.

Abfahrt vom Tête de Fréma, bei mystischer Stimmung geht es Richtung Refuge du Chambeyron. Foto: Stefan Neuhauser

Die ersten 50 Abfahrtstiefenmeter auf dem Bike sind mit Vorsicht zu genießen. Nur wer sich zu hundert Prozent sicher ist, sollte hier einrollen. Eine kurze Stelle ist nicht fahrbar. Ein Sturz hier bedeutet einen ungewissen Ausgang – bis hin zum Totalabsturz! Im Rest des Gipfelaufbaus schlängelt sich der Weg wie eine endlose Schlange die Flanke hinunter bis zum Col de la Gypière. Von dort geht es mal flott, mal eng und technisch über einige knackige Felsbänder, bei denen man beim Aufstieg nicht dachte, dass man sie fahren könnte, hinab zur Hütte. Je weiter wir dem Trail folgen, umso flowiger wird er. Die Abfahrt ist wie ein Fest auf Rädern, das erst nach 1900 Tiefenmetern vom Gipfel in St. Paul sur Ubaye endet. Bäm!

DAV-Position zum Bikebergsteigen

In seinen Positionen und Handlungsempfehlungen zum Mountainbiken formuliert der DAV seine Haltung zum Bikebergsteigen wie folgt: Im neuen Trend des Bikebergsteigens werden Aspekte des klassischen Bergsteigens mit Aspekten des Bikesports gekoppelt. Unter Berücksichtigung der Eignung der Routen, der gewissenhaften Tourenplanung und einem hohen Maß an Selbsteinschätzung und alpiner Kompetenz, einem umfassenden Wissen über Flora und Fauna und einem passenden Sozialverhalten werden Gipfelerlebnisse mit dem Mountainbike vom DAV als eine mögliche Ausdifferenzierung angesehen, deren Ausübung aber zugunsten einer geringen Frequentierung nicht aktiv gefördert werden muss. (...) Generell unterscheidet sich der Ablauf nur wenig vom traditionellen Bergsteigen: Der Anstieg erfolgt per Pedes! Anstatt aber bergab über Stufen, Wurzeln und Schuttkare zurückzuwandern wird der Weg ins Tal in gekonnter Trial-Technik auf dem Rad bewältigt. Die Mischung aus alpiner Kompetenz, Kondition und Koordination machen die besonderen Reize des alpinen Trailbikens aus.

Genialer Granit und flowige Wege

Fährt man das Ubayetal bis Maljasset komplett hinein, stehen die Uhren still. Dieses kleine Dorf liegt auf 1900 Metern über dem Meeresspiegel und wird schon seit Jahrhunderten bewohnt. Wer hier auf Erkundungstour geht, schreitet auf historischen Spuren. In den Berghängen sind noch Überreste von alten Eisen- und Silberminen zu sehen. Die Wege dienen seit unzähligen Generationen dem Handel mit dem Piemont, der Viehwirtschaft oder dem Transport von Edelmetallen. Geologisch hat diese Gegend und im Speziellen das Valle de Maurin viel Abwechslung zu bieten. Harte Gesteinsschichten aus genialem Granit zum Klettern wechseln sich mit weichen Gesteinsschichten ab, die sich ausgezeichnet biken lassen, weil die Wege darin eher flowig als verblockt sind. Das geologische Chaos hat somit seine Tücken für rollende Bergfans.

Wo sie über weiche Gesteinsschichten verlaufen, lassen sich die Trails im Valle de Maurin ausgezeichnet biken. Foto: Stefan Neuhauser

Unser Aufstieg führt uns über den Col de Maurin, den Übergang ins Valle Maira, weiter zum Col de Marinet. Der Weg lässt sich gut schieben und in einigen Abschnitten sogar radeln. Hier oben tauchen wir landschaftlich in eine andere Welt ein. Eine fast schneeweiße Gesteinsschicht wechselt sich am Sattel mit roter Erde ab. Ein paar Meter weiter liegen tausende Klötze von einem Felssturz. Unser Tagesziel, den Monte Ciaslaras (3005 m), nehmen wir anders als geplant ohne Rad mit. Anschließend schießen wir vom Col de Marinet in den sich abzeichnenden Trail. Schmal, sehr schmal zieht er am Hang dahin und erfordert all unsere Aufmerksamkeit. Kurz vor dem Lac de Marinet stoppen uns die Felsblöcke eines Bergsturzes. Schneeglöckchen umrahmen diesen wunderschönen See, der hier tief eingebettet zwischen den schroffen Flanken liegt und in wunderschönen Farben schimmert. Allein hier zu sein, war alle Anstrengungen wert. Der Weg folgt dem Verlauf des Baches auf eine Hangkante zu. Hier steigen wir wieder auf unsere Bikes. Zwar liegt technisch anspruchsvolles Terrain vor uns, aber bis auf wenige Stellen kann man alles fahren. Es macht riesigen Spaß, in diesem Gelände alle Register zu ziehen, um möglichst jeden Meter auf dem Bike zu bewältigen. Kurz vor dem Talboden ist die Geologie jetzt auch wieder auf unserer Seite und der Weg wird fahrbarer. An der Bergerie de Mary machen wir halt, blicken zurück und sind fasziniert, was mit dem Bike alles geht. Unser Blick bleibt gleich darauf an einem markanten Spitz hängen. Massiv sieht er aus, der Turm.

Kletterspaß an der Aiguille Pierre André. Foto: Eric Haufe

Unser Ziel für morgen ist gesetzt, die Aiguille Pierre André. Auf der Südseite des Pierre André gibt es etliche anspruchsvolle Routen. Im westlichen kürzeren Sektor geht’s einfacher zu, dort verläuft auch der Normalaufstieg, der mit Abseilstellen versehen ist und im Allgemeinen als Abstieg für alle anderen Routen dient. Um das Klettern mit dem Biken auf Singletrails zu kombinieren, müssen wir einen Kompromiss bei der Ausrüstung machen. Möglichst minimalistisch unterwegs zu sein und doch für alles gerüstet, ist der Anspruch, der dann eben doch nur in Teilen erfüllt werden kann. Bewusst entscheiden wir uns für einen Enduro-Bikehelm. Dieser bietet vor allem guten Schutz bei Stürzen mit dem Rad und schützt so leidlich gegen Steinschlag.

Anmerkung der Redaktion:

Der DAV spricht sich in solchen Fällen für die Verwendung eines sogenannten Multisporthelms aus, der für den Einsatz beim Klettern und Biken zertifiziert ist.

Ein Drittel der Wegstrecke folgen wir nochmals dem Wanderweg zum Col de Maurin. An der Abzweigung zur Aiguille Pierre André deponieren wir die Räder. Wesentlich leichter stapfen wir die steile Flanke an den Wandfuß. Dafür, dass es nur Kletterei bis zum vierten Grad sein soll, wirkt die Wand ziemlich steil. Stefan steigt in die erste Seillänge ein und nach wenigen Metern sprudelt die Kletterfreude schon aus ihm raus! Der sehr raue, griffige Fels macht die Kletterei zu einem wahren Vergnügen. Die schwierig anmutenden Stellen lösen sich in wunderschönen Bewegungen auf und bringen enormen Spaß. Ein paar kurze Seillängen später stehen wir mit einem breiten Grinsen auf dem Gipfel. Es fühlt sich an, als würde man auf einem Zahnstocher stehen. Ungefähr eine Stunde brauchen wir vom Gipfel, bis wir wieder bei unseren Bikes sind. Nun sind wir froh, die Räder einen Teil des Weges mitgenommen zu haben – im Aufstieg war es zwar erstmal anstrengender, die Abfahrt bietet nun aber richtig Spaß.

Wer biken und bergsteigen will, muss auch mal Kompromisse bei der Ausrüstung machen. Foto: Eric Haufe

Lieber sieben Kilometer einen coolen Trail fahren als laufen. Da sind wir uns definitiv einig. Auch wenn die Entscheidung oft nicht leichtfällt, das Mountainbike zum Einstieg oder einen Teil des Weges mitzunehmen.

Monte Oronaye – hoch, luftig und beeindruckend schön

Das Vallon de l’Orrenaye ist unfassbar schön mit seiner abwechslungsreichen, offenen Seenlandschaft. Im Aufstieg vom Col de Larche, wo wir das Auto deponiert haben, können gute Teile des Weges hinauf geradelt werden. Vom Lac de l‘Orrenaye ist unser imposantes Tagesziel, der Monte Oronaye (3104 m), gut zu sehen. Auf der Südseite zieht sich ein riesiges Schotterfeld die Flanke rauf. Dort lassen wir die Räder liegen. Der Aufstieg führt in eine sehr steile Rinne, die auf der rechten Seite von den massiven Wänden des Gipfels begrenzt wird. Trotz Markierungen ist es nicht einfach, die richtige Linie im Aufstieg zu finden. Sehr gute Trittsicherheit und etwas Kraxelei sind notwendig, diesen spannenden Zustieg zu meistern.

Kletterspaß und markante Tiefblicke gibt’s auf dem Weg zum Monte Oronaye. Foto: Stefan Neuhauser

Nach dem kräftezehrenden Aufstieg machen wir eine kleine Pause, um die Energiespeicher wieder aufzufüllen. Noch sind wir nicht auf dem Gipfel. Heute haben wir uns für ein noch abgespeckteres Kletter-Setup entschieden. Dreißig Meter 9-Millimeter-Einfachseil und Escaper müssen reichen. Es gibt verschiedene Varianten im letzten Gipfelaufbau. Stefan klettert in die Rinne ein, deren Schwierigkeit um den dritten Grad liegen müsste. Zwischensicherungen sind hier keine eingebohrt, eigene Absicherungen aber möglich. Am Ende der Seillänge finden wir einen Stand. Eine kurze, sehr luftige Querung führt uns auf die Nordseite des Gipfels. Aus dem Schatten klettern wir einen circa 25 Meter langen Aufschwung, der richtig Laune macht. Hoch und luftig inmitten der senkrecht abfallenden Nordwand. Beeindruckend schön! Gute Griffe und große Tritte in festem Fels lassen uns gut vorankommen. Wieder gibt es oben einen gebohrten Standplatz. Wir folgen dem Grat bis zum Gipfelkreuz. Erst hier wird uns bewusst, was für ein überragender Aussichtsgipfel der Monte Oronaye ist. Wir sehen alles, was ringsherum Rang und Namen hat. Den Monte Viso, das Ecrins-Massiv, die Chambeyron-Gruppe direkt vor der Nase, im südlicheren Sichtfeld liegen die Poebene und die Provence. Die Zeit steht still und wir nehmen einfach nur Platz in diesem Kino! Irgendwo tief da unten liegen unsere Räder.

Der Monte Oronaye – ein überragender Aussichtsgipfel. Foto: Eric Haufe

Mit dem Escaper und dem 30-Meter-Seil kommen wir super flink den Gipfelaufbau herunter. Dann steigen wir sehr konzentriert durch die Rinne ab und treffen bald auf unsere Bikes. Vom Gipfel aus haben wir unseren Brotzeitplatz am Lac de Roburent schon ausgemacht. An diesem traumhaften Ort legen wir die Bikes nieder und lassen uns ins butterweiche Gras fallen. Brotzeit! Nach dem intensiven Vormittag schmeckt der Ziegenkäse himmlisch. Diesen Platz hier zu verlassen, fällt uns schwer, doch wir haben noch Einiges vor uns. Der Trail zieht sanft am Seeufer entlang, passiert die Laghi de Roburent und führt uns mit einem Zwischenanstieg zu einer Alpe hinauf.

Stärkung am Lac de Roburent – es wartet noch eine anspruchsvolle Abfahrt. Foto: Stefan Neuhauser

Ab hier beginnt die Hauptabfahrt für heute. Zu Beginn teils etwas ruppig, was aber dem Fahrspaß keinen Abbruch tut. Macht sogar richtig Bock! Der Weg führt uns auf die kleine Plattform La Tinetto, von der man einen genialen Blick ins Valle Stura hat. Erst hier realisieren wir, dass wir ja eigentlich im Piemont sind. Es folgt das große Abschlussfest des Tages. Der Trail zieht sich in vielen Kehren und etlichen anspruchsvollen Stellen durch die Flanke. Was für ein feines Finale zum Abschluss der Runde, die erst in Argentera endet. Ohne Stress und mit der Erinnerung an die unvergesslichen Momente, die wir heute am Berg erlebt haben, gehen die 350 Höhenmeter zurück zum Auto auf die französische Seite des Colle della Maddalena fast wie im Flug vorbei. Überwältigt von diesen intensiven Erlebnissen fragen wir uns. War das jetzt Bikebergsteigen? Wir wissen es nicht. Belassen wir es einfach dabei, mit Kletterzeug und Bergradl auf dem Spielplatz „Alpes de Haute Provence“ unterwegs gewesen zu sein.

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