Bergsteiger mit Pickel und Steigeisen
Sicher am Berg: Dazu gehört neben körperlicher Fitness auch ein starker Kopf. DAV/Marco Kost
Mentale Stärke

Kopfsache Bergsteigen

Wer in den Bergen gut und sicher unterwegs sein will, braucht nicht nur Ausdauer und Technik, sondern muss auch mit dem Kopf dabei sein.

Der Kopf. Ob beim Biathlon oder Skispringen, in der Leichtathletik oder beim Turnen – im Leistungssport ist Mentaltraining selbstverständlich, um im Medaillenwettbewerb mögliche Blockaden im Kopf zu lösen, Selbstzweifel abzubauen und die eigenen Potenziale voll auszuschöpfen. Auch im Bergsport ist dieser Ansatz angekommen. Schon vor mehr als drei Jahrzehnten erklärte Wolfgang Güllich, der 1991 als erster eine Route im Schwierigkeitsgrad XI durchstieg, beim Klettern sei das Gehirn der wichtigste Muskel. Der Profikletterer Roger Schäli arbeitet mit einem Mentalcoach zusammen. Und der amerikanische Ausnahmealpinist Steve House erklärt: „Mentaltraining ist am Berg akzeptierter als früher. Die Frage wird heute offener diskutiert.“

In seinem Trainingsprogramm „Uphill Athlet“ spielt die – wie Steve House es nennt – „fuzzy awareness“ eine wichtige Rolle. In diesem verschwommenen Bewusstseinszustand sei er hyperfokussiert. „Aber nicht im Sinne eines Laserpointers, wie es bei einer schwierigen Sportkletterroute nötig ist, wo es auf die genaue Position ankommt“, beschreibt House. Auf Nachfrage erklärt er, dass im Zustand der „fuzzy awareness“ Aufgaben, die zunächst als Belastung und schwierig zu lösen erschienen, zur Routine und leicht lösbar würden.

Psyche bergfit machen

Und wie sieht es im alpinen Breitensport aus? Einfach nur in die Berge gehen und dort eine gute Zeit haben reicht vielen nicht mehr. Sollte jemand, der am Wochenende gerne hin und wieder auch fordernde Touren unternimmt, nicht nur seine Kondition und Technik trainieren, sondern auch dem Kopf besondere Aufmerksamkeit schenken? Oder kommt mit mehr Erfahrung und Routine auch automatisch die mentale Stärke und die Sicherheit für schwierigere Aufgaben?

Man muss nicht gleich wie Steve House im Alpinstil durch die Rupal-Flanke am Nanga Parbat steigen. Auch an niedrigeren Bergen und auf leichteren Touren kann Mentaltraining seine Berechtigung haben, findet Maya Lalive, Mental und Potential Coach in der Schweiz. „Selbst wenn wir sporttechnisch bestens ausgebildet und konditionell trainiert sind, ist dies noch kein Garant dafür, dass wir auch unsere Gefühle und Gedanken im Griff haben. Im Bergsport entscheidet deshalb oft die mentale Stärke über Erfolg oder Misserfolg, über Genuss oder Frust“, schreibt Lalive, die auch Autorin des Buchs „Mental stark am Berg“ (SAC Verlag) ist. Der Tenor der Publikation: Wir können unsere Psyche nicht nur bergfit machen, wir sollten es sogar!

"Mentaltraining ist am Berg akzeptierter als früher"
- Steve House

An der Schlüsselstelle einer fordernden Kletterroute der Gedanke an eine Auseinandersetzung mit einer Kollegin vor wenigen Tagen; auf einer Skitour die ständige Frage im Kopf, wie es mit der Beziehung weitergehen soll; schon Tage vor einer Wanderung die immer gleichen plagenden Gedanken, ob Gruppe und Tourenauswahl am Wochenende auch wirklich passen. Was daraus folgen kann, haben einige vielleicht schon einmal selbst erlebt: in der Wand eine plötzliche Unsicherheit, auf Skitour ein wegrutschender Ski. Oder eine tiefe Antriebslosigkeit während des Tourenwochenendes. Wohl niemand wird bestreiten, dass es in solchen Situationen besonders auf den Kopf ankommt.

Kann die psychische Überforderung möglicherweise auch bei den so genannten Blockierungen eine Rolle spielen, die sich besonders in Klettersteigen seit einigen Jahren häufen? Laut aktueller DAV-Unfallstatistik waren sie 2020 etwa doppelt so oft der Grund für Rettungseinsätze in Klettersteigen wie Stürze. Häufig stehe eine überhöhte oder falsche Selbsteinschätzung hinter einer Blockierung, die dann in irgendeine Art von Überforderung münde, erklärt Lukas Fritz von der DAV-Sicherheitsforschung. Zwar kann er auf der Grundlage der Meldezahlen keine qualifizierte Aussage zu den körperlichen und psychischen Ursachen für die Blockierung treffen. „Aus meiner Erfahrung als Bergführer kann ich allerdings berichten, dass mal das eine, mal das andere primär ausschlaggebend ist. Oft ist es auch ein Zusammenspiel aus mangelnder Fitness und psychischer Überforderung, das ist nicht klar voneinander zu trennen und hängt eng zusammen“, so Lukas Fritz. Gehört also auch die persönliche mentale Einstellung zur Tourenplanung dazu? Der Ratschlag von Maya Lalive: „Im Vorfeld einer anspruchsvollen oder unbekannten Unternehmung am Berg setze ich mich häufig mit potenziellen kritischen Situationen auseinander, überlege mir Alternativen, wie ich agieren und reagieren könnte.“

Wetterumschwünge oder schlechte Sicht auf einer anspruchsvollen Tour können schnell mal an den Nerven zehren. Adobe Stock/XtravaganT

Der Stress mit dem Stress

Doch darf man in den Bergen nicht einfach auch mal Nein sagen und umkehren, wenn die Freude fehlt? Wie psychologisch aufgeladen soll der Bergsport werden? „In einer gesunden, psychisch stabilen Verfassung kann ich am Berg großartige Ziele erreichen, ich kann an meine Grenzen herangehen und sehr viel erleben. Und gehe ich psychisch zerrüttet in die Berge, kann ich dort den Raum finden, damit es mir hinterher wieder besser geht“, sagt Jan Mersch, Bergführer und Psychologe. Mit seinem Coachingkonzept (menschundberge.com) nutzt Mersch, der auch das Buch „Die Angst. Dein bester Freund“ von Alexander Huber um fachliche Beiträge ergänzt hat, bewusst das Terrain Berg. Und bringt Menschen damit in ihrem Denken auf andere Pfade. Gleichzeitig warnt Mersch davor, das Draußensein zu sehr mit psychologischen Inhalten zu füllen und das Schneller, Höher, Weiter aus dem Berufsleben auch noch auf die Freizeit in den Bergen zu übertragen. Das sei eine Gefahr unserer erfolgszentrierten Gesellschaft, die die Bewegung am Berg damit zu einem zusätzlichen Stressfaktor machen würde. „Leider wollen sich heute viele nicht mehr eingestehen, dass sie eben nicht der Held sind. Oft fehlt die Demut gegenüber dem eigenen Nicht-Können“, so die Einschätzung von Mersch. Dabei böten Berge doch genau den Raum, in dem eben nicht die persönliche Selbstoptimierung zähle; wo niemand perfekt sein müsse, wo auch die Ruhe einkehren könne, die im Alltag oft fehle, findet Mersch.

"Oft fehlt die Demut gegenüber dem eigenen Nicht-Können"
- Jan Mersch

 Letztlich gilt es, für sich selbst zu entscheiden, wie viel man sich am Berg zumuten will – sowohl physisch als auch psychisch. Dass das Scheitern selbst für Bergprofis eine Option sein kann, haben im Frühjahr 2021 David Göttler und Kilian Jornet gezeigt. Die beiden wollten gemeinsam ohne Flaschensauerstoff auf den Mount Everest steigen. In etwa 8000 Metern Höhe machten sie kehrt. Trotz exzellenter Vorbereitung passte es für sie an diesem Tag nicht zu 100 Prozent. Möglicherweise ist es sogar die größere mentale Stärke, seine Grenzen zu erkennen, als die Grenzen immer weiter verschieben oder sie sogar überwinden zu wollen.

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