Nahaufnahme einer Kletterin an der Wand
Weiterkommen, Grenzen kennenlernen, Selbstvertrauen aufbauen: Erfahrungen beim Klettern können auch im Alltag helfen. Foto: Adobe Stock/alfa 27
Klettern als Therapie

An die Wand – aus der Krise

Klettern tut gut – nicht nur dem Körper. Es stärkt das Selbstvertrauen und die psychische Widerstandskraft. Und es wird immer häufiger auch therapeutisch eingesetzt.

In Deutschland erkrankt laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts (DEGS1- Studie mit Zusatzmodul „psychische Gesundheit“) jährlich mehr als ein Viertel der Erwachsenen psychisch. Zu den drei häufigsten Krankheitsbildern zählen Angststörungen, Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum. Was auch aus der Studie hervorgeht: Die Mehrheit begibt sich nicht in Behandlung, dabei kommt das Thema mentale Gesundheit immer mehr in der Mitte der Gesellschaft an. Daten der Krankenkassen zeigen, dass der Bedarf an Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten stetig wächst. Psychische Krankheiten sind inzwischen genauso häufig wie andere „Volkskrankheiten“, etwa Bluthochdruck oder Diabetes.

Klettern kann helfen

Genauso wie es bei Krankheiten wie Bluthochdruck neben Medikamenten andere Behandlungsmöglichkeiten gibt, setzt die Therapie bei psychischen Erkrankungen ebenfalls auf Alternativen. Zum Beispiel auf das Klettern. Immer mehr Kliniken ergänzen damit ihre Therapien – bei den unterschiedlichsten Krankheitsbildern: Depression, Burnout, Zwangsstörungen, Angststörungen, Essstörungen, Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum oder posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD). „Das Klettern kann therapeutisch wirksam sein – ganz ohne spezifische Übungen. Die Kletterwand spiegelt einem die eigenen Themen und hilft, diese auf den Tisch zu bringen“, erklärt Dr. Alexander Heimbeck, der leitende Sport- und Bewegungstherapeut an der psychosomatischen Schön Klinik Roseneck. Als langjähriger Klettertrainer weiß Heimbeck: „Bei Kletterern können Themen eine Rolle spielen, die oft auch im Alltag präsent sind. Bei den einen geht es um den Umgang mit Angst und Vertrauen, bei den anderen um Leistung oder Kommunikation. Bei der Arbeit mit Patienten sprechen wir das gezielt an und versuchen so, Denk- und Verhaltensmuster aufzudecken.“ So können Burnout-Patient*innen oft ihre Grenzen schlecht einschätzen. „Sie überfordern sich bis zur totalen Erschöpfung“, sagt Alexander Heimbeck. „In den Körper zu spüren ist hier besonders wichtig! Die Signale des Körpers richtig zu deuten, hilft Muster zu erkennen und sich mit dem Therapeuten neue Handlungsoptionen zu erarbeiten.“ So kann es zum Beispiel ein komplett neues Handlungsmuster sein, sich selbst zu erlauben, beim Klettern eine Pause zu machen.

Wie wirkt Klettern?

Klettern wirkt auf vier verschiedenen Ebenen:

1. Funktionale Ebene

Betroffene erleben, dass sie aus eigener Kraft etwas leisten. Sie bauen durch regelmäßiges Klettern mehr Kraft und Kondition auf und steigern dadurch ihre Leistung. Mit der Zeit wird der Bewegungsspielraum größer, die Körperwahrnehmung besser und die Muskeln werden stärker.

2. Sensitive Ebene

Beim therapeutischen Klettern liegt ein großes Augenmerk auf den Empfindungen im Körper. Fragen wie „Was fühle ich gerade? Was spüre ich in meinem Körper?“ sind essenziell, um den Heilungsprozess voranzutreiben. Beim Klettern sind Betroffene mit einer „Extremsituation“ konfrontiert und können dadurch Gefühle wie Angst und Panik intensiver, schneller und differenzierter wahrnehmen. Sie lernen, zuvor unbewusste Signale frühzeitiger wahrzunehmen, ihre Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und sie auch anzuwenden. Zu spüren, dass man seinen Gefühlen und Gedanken nicht hilflos ausgeliefert ist, trägt sehr viel zum Heilungsprozess bei. Darüber hinaus liegt der Fokus auf dem „Hier und Jetzt“. Denn beim Klettern ist man so stark auf den nächsten Tritt oder Griff konzentriert, dass man anders als beim Wandern, Laufen oder Radeln das Gedankenkarussell im Kopf stoppen kann.

3. Soziale Ebene

Wie verhalte ich mich und wie kommuniziere ich in Beziehungen? Klettern ist ein Spiegel für Alltagsthemen und Verhaltensweisen. Wer klettert, ist darauf angewiesen, mit seiner*m Sicherungspartner*in eine soziale Bindung einzugehen, die auf Vertrauen basiert. Man begibt sich vertrauensvoll in die Hände des Gegenübers und erfährt auf diese Art und Weise soziale Unterstützung. Das Seil ist die Verbindung zwischen den beiden Menschen. Das bedeutet: Wer fällt, wird aufgefangen. Und wer sichert, trägt die Verantwortung für das Leben des anderen.

Einander helfen und vertrauen: Klettern schafft eine soziale und emotionale Bindung. Foto: Adobe Stock/industrieblick

4. Symbolische Ebene

Therapeut*innen nutzen das Klettern als Medium, um den „inneren Beobachter“ der Patient*innen zu schulen und gezielt zu aktivieren. Da beim Klettern mit psychisch erkrankten Menschen oft Emotionen wie Angst, Ärger oder Scham verstärkt präsent sind, ist Klettern eine Art Achtsamkeitstraining für Probleme und Verhaltensweisen im Alltag. An Depressionen Erkrankte lernen beispielsweise an der Kletterwand, mit diesen Gefühlen umzugehen und sich selbst wieder mehr zuzutrauen.

Positive Studien

Die Wirksamkeit von Klettern und Bouldern bestätigen die Ergebnisse verschiedener Studien. 2015 entwickelte ein Team aus Psychologinnen und Soziologinnen an der Universität Erlangen das Programm „Klettern und Stimmung“ und startete eine Pilotstudie. Ab Mai 2017 begleiteten sie in einer zweiten Studie 133 Patient*innen bei Boulder-Einheiten mit psychotherapeutischen Elementen. Sie erforschten die Wirkung des jeweils achtwöchigen Programms auf depressive Menschen. Die Ergebnisse der Studie stellten sie Anfang 2020 auf dem weltweit ersten Kongress zum Thema Klettern in der Psychotherapie an der Schön Klinik Roseneck vor. Ergebnis: Die Erkrankten zeigten mit der Zeit auffällig weniger depressive Symptome. Sie fühlten sich körperlich besser, ausgeglichener und verspürten wieder mehr Selbstvertrauen. Und auch ohne therapeutischen Ansatz tut die Bewegung an der Wand gut, wie Kolleg*innen von Alexander Heimbeck untersucht haben. Deren Ergebnisse zeigen, dass Bouldern die psychische Widerstandskraft (Resilienz) und das psychische Wohlbefinden steigern und depressive Symptome abmildern kann.

Tipps: Klettern gegen depressive Verstimmungen

Wichtig: Beim Klettern sind Sicherungs- und Klettertechnik essenziell! Wer keine Klettererfahrung hat und keinen therapeutischen Kurs besucht, sollte auf jeden Fall einen Grundkurs belegen. Die meisten DAV-Sektionen bieten Kletterkurse an.

  • Versuche deinen momentanen Zustand anzunehmen. Es ist normal, dass du für einige Zeit körperlich keine Höchstleistung bringen kannst und musst.

  • Klettere lieber weniger intensiv, dafür möglichst regelmäßig. Setze dir nach Tagesform bewusst realistische Ziele. Das kann bedeuten, dass es schon Ziel genug sein kann, in die Halle zu fahren.

  • Feiere kleine Erfolge und belohne dich dafür! Auch wichtig: Lobt euch gegenseitig nach einer geschafften Route oder einem geknackten Boulder und freut euch mit- und füreinander.

  • Setze mehr das Klettern selbst in den Mittelpunkt und weniger das Erreichen von sportlichen Zielen. Versuche ab und an, in einer leichten Route bewusst und achtsam zu klettern. Spüre deinen Körper, die Kraft, die Atmung und die Bewegung.

Mittlerweile gibt es in vielen Städten Therapeut*innen, die sich auf das Thema spezialisiert haben. Weitere Kontaktadressen: schoen-klinik.de/roseneck, rock-soul.de, ninaneu.de, therapieklettern.com