Lächelnde Frau
Dörte Pietron. Foto: Christian Pfanzelt
Maltes Gespräche

Dörte Pietron

Dörte Pietron gelang es 2003 als erste Frau in den bis dahin rein männlich besetzten DAV-Expeditionskader aufgenommen zu werden. Die Diplomphysikerin und Bergführerin pendelte lange zwischen Patagonien und den Dolomiten, stand zwei Mal auf dem Cerro Torre und vier Mal auf dem Fitz Roy.

1981 im gebirgsfernen Heidelberg geboren, gelang Dörte Pietron 2003 als erster Frau die Aufnahme in den bis dahin rein männlich besetzten DAV-Expeditionskader. Die Diplomphysikerin und Bergführerin pendelte knapp zehn Jahre zwischen Patagonien und den Dolomiten, stand zwei Mal auf dem legendären Cerro Torre und vier Mal auf dem Fitz Roy. Mit ihrem Lebensgefährten Daniel Gebel eröffnet sie alpine Sportkletterrouten bis X+, seit 2011 leitet sie den damals neu gegründeten Expeditionskader der Frauen. Malte Roeper hat mit Dörte gesprochen: übers Bergsteigen, Rollenbilder und die Freiheit.

Malte Roeper: Ist dir der Name Tamara Bunke ein Begriff?

Dörte Pietron: Nein.

Tamara Bunke stammte aus Ostdeutschland und hat 1967 mit Che Guevara in Bolivien gekämpft - bei seinem Versuch, den Befreiungskampf im Dschungel fortzusetzen. Sie wurde erschossen.
Zu dir gibt es eine gewisse Parallele: Auch du bist wegen der Freiheit nach Südamerika - nach Argentinien in diesem Fall, wo Che ja herkam. Die Zelte daheim abbrechen und sich mit Rolando Garibotti in Patagonien niederlassen, dem “Alpin-Hausmeister“ dort unten, das ist ja auch ein großes Risiko. Zumindest in emotionaler Hinsicht.

Das hab ich nie so empfunden. Ich war nie so richtig sesshaft an einem Ort, ich habe in Heidelberg studiert, dem Ort, den ich lange als Heimat empfunden habe. Aber dadurch, dass ich schon lange so wahnsinnig viel unterwegs war, hatte ich nicht das Gefühl, dass ich irgendwas aufgebe. Ich habe meinen Standort verlegt, aber ich hatte nicht das Gefühl, die Heimat zu verlassen.

Aber solange du schwerpunktmäßig noch in Europa warst, hattest du einen anderen Rückzugsraum. In Zeiten, wenn man down ist, zum Beispiel.

Das kann man so sehen. Klar ist es ein Wagnis, den Kontinent zu wechseln. Aber ich habe das als Entdeckung von etwas Neuem angesehen und weniger als Aufgabe von Sicherheit.
- Dörte Pietron
Auch im steilen Dolomiten-Eis zuhause: Dörte Pietron im Flauto Magico. Foto: Raphaela Haug

Ein Leben im Auto – zwischen Dolomiten und Patagonien

Dazu war es dieses euphorische Lebensalter, in dem man sowieso denkt, es geht immer nach vorn?

Ja, davor war ich im Expeditionskader und habe gleichzeitig Physik studiert. Nach dem Kader habe ich die Bergführerausbildung angefangen und dann jahrelang im Auto gelebt. Ich hatte das ganze Equipment in der Garage von meinen Eltern und habe das – je nachdem, ob gerade Winter oder Sommer war – nach Bedarf ausgetauscht. Aber im Prinzip habe ich im Auto gelebt. Und wenn ich eine Ruhezeit brauchte oder nicht unterwegs war, war ich zu Hause bei meiner Mutter. Ich war aber meistens unterwegs zwischen Ausbildung und dann führen und selbst klettern. Da hat es sich nicht rentiert, eine Wohnung zu haben.

In welcher Zeit war das?

2003 bis 2005 Expeditionskader, danach hab ich mit der Bergführerausbildung angefangen und 2006 meine Diplomarbeit geschrieben. Und ab 2008/2009 war ich dann regelmäßig von Oktober/November bis März/April in Patagonien und den Sommer über in Europa und habe da noch im Auto gepennt. Und dann irgendwann die Wohnung gekauft in den Dolomiten.

Wie hast du die finanziert? Im Auto leben ist billig, aber so mit links geht jetzt so eine Wohnung ja auch nicht her.

Ich habe jahrelang diesen sehr günstigen Lebensstil geführt, wo ich im Prinzip keine Ausgaben hatte, da kann man schon einiges ansammeln. Ich hatte ursprünglich überlegt, in die deutschsprachigen Dolomiten zu gehen, nach Südtirol, aber das hätte ich mir nie leisten können. Und weil die Preise viel niedriger sind, bin ich dann in einer etwas verlorenen Ecke gelandet, die aber wunderschön liegt, in der Nähe der Civetta.

Erste freie Begehung von „Goldkäfig“ (X+) am Zugspitzmassiv 2020. Foto: Christian Pfanzelt

Große weite Landschaft, Wildnis, keine Menschen

In Patagonien mit Rolando Garibotti: Man stellt sich euch als dieses verwegene Traumpaar vor, hurra ins Abenteuer – war es so?

Mir hat das schon sehr gut gefallen. Patagonien ist komplett anders als Europa. Du hast die große weite Landschaft, Wildnis, keine Menschen und man sieht auch gar nichts, was die menschliche Anwesenheit zeigt, keine Stromleitungen, keine Straßen, nichts. Das ist in Europa sehr selten und diese große weite Landschaft fasziniert mich. Der zweite Aspekt ist die Kultur, das soziale Verhalten. In Argentinien ist nicht alles so geregelt wie in Deutschland, manchmal ist das ärgerlich, weil Sachen nicht funktionieren, aber es lässt auch einen großen Freiraum: Die Leute sind sehr flexibel, weil sie sehr flexibel sein müssen. Niemand hat so einen strikten Plan wie in Deutschland, die Leute nehmen sich mehr Zeit, kommen spontan vorbei. Man geht zusammen bouldern, ohne dass man das planen müsste - hier muss man immer alles vorher ausmachen. Die Abwechslung hat mir gut gefallen.

Wie lange war das so – halbes Jahr Patagonien, halbes Jahr Italien?

Fast zehn Jahre.

Rolando war ja nun nicht irgendjemand, sondern der Hausmeister Patagoniens. Inwieweit war es schwierig, neben ihm als selbständige Alpinistin wahrgenommen zu werden?

Klar kamen immer alle zum ihm und wollten Kletter-Tipps oder Infos für Führer oder eine Website, aber gemacht haben wir das zusammen. Und ich hab da auch viel ohne ihn gemacht. Dass die Leute da mehr an ihn dachten als an mich, hat mich nicht so gestört. Wir hatten nur ein sehr kleines Haus, ein Raum mit Küche und eine Zwischendecke zum Schlafen. Mehr hab ich nie gebraucht. Und da kamen immer alle vorbei, Freunde oder auch Fremde, die irgendwas wissen wollten. Es war nur ein Raum, das war oftmals wahnsinnig gemütlich und schön, aber auch irre anstrengend. Wenn sich zehn Leute über Klettern unterhalten, kannst du nicht nebenbei irgendwas am Schreibtisch machen. Zum Teil kamen die ersten morgens um neun und das ging dann bis in den Abend.

Und bei dem patagonischen Sauwetter kann man sie auch schlecht rausjagen...

Genau. Bei Schönwetter saßen wir draußen, aber sonst waren immer alle drin.

Steil aufwärts an der Aguja Guillaumet in Patagonien. Foto: Sarah Hart

Physik, π und Autos

Daheim in Heidelberg, als du aufgewachsen bist, war es ruhiger?

Ja, ich war Einzelkind, ich hab mich ziemlich viel allein beschäftigt. Allein im Wald gespielt, jongliert, Einrad gefahren, solche Sachen. Ich hab von meinen Eltern aber viel Unterstützung bekommen. Mit Klettern hab ich recht spät angefangen, erst so zum Abitur, da wurden die Eltern eh nicht mehr gefragt... aber da gab es nie Konflikte, das wurde nie in Frage gestellt.

Dein Vater war Naturwissenschaftler, oder? 

Mein Vater kam aus der DDR, er hatte eine Schlosser-und Elektrikerlehre gemacht, dann auf Lehramt studiert, musste fliehen und wieder neu anfangen. Am Ende hat er nochmal studiert und an derselben Fachhochschule unterrichtet: Sozialpädagogik, Physik und Mathematik. Und wurde dann zum Ehrenprofessor ernannt. Also nicht die klassische Uni-Laufbahn, sondern er hat sich alles selber erarbeitet. Ich kam relativ spät, er hatte schon aufgehört zu arbeiten, als ich zwölf oder dreizehn war.

Und deine Mutter?

Physiotherapeutin, sie war auch mal ein Jahr in England, eine Zeitlang in Spanien, Schweden, Dänemark, also auch viel unterwegs und unternehmungslustig. Nächstes Jahr wird sie achtzig. Und macht immer noch Radtouren, geht Langlaufen oder auf eine Alpenüberquerung, die ist noch sehr aktiv. Ich glaube schon, dass ich meinen Unternehmungsgeist von den Eltern übernommen habe. Beide haben sich ihr eigenes Leben selbst erarbeitet und haben viele unterschiedliche Länder und Situationen gesehen.

Du hattest auf deiner Homepage mal so ein Logo mit dem Buchstaben π (Pi), das hast du als mathematische Note von deinem Vater übernommen?

Genau. Er hat in der Fachhochschule immer Prüfungen korrigiert und mit π unterschrieben, weil er zu faul war, seinen ganzen Namen zu schreiben. Ich kennzeichne auch alles, was meins ist, mit π, das habe ich von ihm übernommen, auch das Interesse für die Naturwissenschaften. Ich habe schon als Kind immer gesagt, dass ich Forscherin werden will und habe dann Physik studiert. Jahre vor dem Abitur stand fest, dass ich Physik studieren will.

Du warst das klassische Nicht-typisch-Mädchen-Mädchen  keine rosa Klamotten, keine Puppen?

Ich habe mit Autos und Fußball gespielt. Ich hatte ja keine Geschwister, aber die Schwestern von meiner Mutter hatten zwei Jungs, meine Cousins also, mit denen habe ich mich am besten verstanden, weil die im gleichen Alter waren. Jahre später kamen dann noch zwei Mädchen, mit denen habe ich nie groß was anfangen können wegen des Altersunterschieds. Deshalb habe ich immer mit den Jungs gespielt und da ging es halt um Autos und Fußball.

Guten Morgen von der Schüsselkarspitze. Foto: Daniel Gebel

Zurück ins Jetzt: Wie lang bist du schon mit Daniel zusammen? Ihr seid fest liiert, aber trotzdem hat man den Eindruck, Freiheit ist für dich der rote Faden im Leben.

Freiheit ist total wichtig, ich kann mir das überhaupt nicht anders vorstellen. Ich wollte nie so ein Angestelltenverhältnis, wo man Montag bis Freitag arbeitet, diese Regelmäßigkeit stört mich einfach. Ich brauche die Freiheit, auch kurzfristig entscheiden zu können. Und habe jetzt mit Corona festgestellt, dass ich schon einen gewissen sicheren Rahmen brauche, um meine Freiheit auch ausleben zu können, zum Beispiel Reisefreiheit. Im Prinzip habe ich schätzen gelernt, dass es auch gewisse Regeln gibt. Und dazu gehört halt auch eine feste Beziehung. Ich glaube, es ist anstrengend, wenn man ständig die Beziehung wechselt.

Unter Bergsteigern sind Freiheit und Freiheitsliebe ja häufig ein großes Thema, geht aber oft einher mit einer gewissen Bindungsscheu.

Also die habe nicht.

Che Guevara und viele andere Leitfiguren wollten die Menschheit in eine bessere Zukunft führen, es gab diese Befreiungsbewegungen mit absolut offensichtlichen Zielen: das Ende von Apartheid und Rassentrennung in Südafrika und Nordamerika. Heute dagegen will jeder nur noch die eigene Freiheit - oder?

Im Moment ist es beim Klimawandel ein bisschen was anderes, mit dieser Protestbewegung. Aber sonst habe ich auch das Gefühl, dass Freiheit heute mehr etwas Individuelles ist und es weniger diese großen Strömungen gibt. Wobei - es gibt auch noch „Black Lives Matter“, das ist ja auch eine Art Freiheitsbewegung oder die „MeToo“-Bewegung. Das hat ja auch was mit Freiheit zu tun. Aber ich glaube, das läuft einfach anders ab, mehr über soziale Medien als dass Leute sich versammeln und protestieren.

Bohrhaken setzen in "Goldkäfig". Foto: Daniel Gebel

Ich halte diese Netzwerke alles in allem für furchtbar, ich fürchte, im Endeffekt machen sie die Menschen einsam, aggressiv und dumm.

Eigentlich sind sie eine tolle Erfindung, aber irgendwie haben wir noch nicht gelernt, damit umzugehen. Im Prinzip kann sich da jeder neu erfinden, unabhängig davon, wer er im realen Leben ist. Die meisten posten, wenn was klappt, aber nicht, wenn was nicht klappt. Wenn du immer nur diese Erfolge siehst, und bei dir selbst klappt natürlich nie alles, dann lässt dich das selber denken: Was ist eigentlich mit mir los? Das zieht die Leute runter. Andererseits hat man halt Möglichkeiten, sich total einfach über Dinge zu informieren, mit anderen Kontakt zu halten. Leute, die man nicht regelmäßig sieht, da was mitzukriegen, auch bei Menschen, zu denen man sonst nie Kontakt bekommen würde. Aber ich komme damit bisher auch nicht so gut klar.

Noch einmal Thema Freiheit: Hast du keine Kinder, weil du frei bleiben willst?

Ich wollte nie Kinder, das passt nicht zu meinem Lebensstil. Daniel hat einen Sohn, der ist die halbe Zeit hier. Das empfinde ich als extreme Bereicherung und ich finde es total cool, mit ihm unterwegs zu sein und zu sehen, wie sich jemand entwickelt und eine Persönlichkeit wird. Und natürlich habe ich auch einen Einfluss, wie er aufwächst, weil wir viel Zeit miteinander verbringen. Ein eigenes Kind habe ich nie gewollt und bisher bereue ich es auch nicht, obwohl alle mir immer sagen, es kommt irgendwann. Mit Daniels Sohn ist es für mich das richtige Maß, das gefällt mir sehr gut so. Aber ich bin auch froh, dass ich kein eigenes Kind habe.

"Als ich im Kader war, gab's keine Klamotten für Frauen"

Du wirst immer als die Vorkämpferin im deutschen Frauenalpinismus herausgestellt, reicht's dir damit manchmal?

Ich hatte da nie Bock drauf, ich habe einfach immer das gemacht, was ich machen wollte. Zufälligerweise bin ich fast überall die einzige Frau gewesen und habe deshalb immer diese Aufmerksamkeit bekommen, stehe aber nicht gern im Rampenlicht. Andererseits habe ich auch selbst den Unterschied erlebt, wie viel schwieriger es ist für Frauen, in Männerdomänen Fuß zu fassen. Ich hatte zwar nie das Gefühl, dass jemand mir Steine in den Weg gelegt hat, aber: Sich etwas zuzutrauen, was vor dir noch niemand gemacht hat, ist halt was anderes. Wenn du heute siehst: Frauen gehen Bergsteigen, Frauen klettern schwere Routen, dann denkst du, klar, kann ich auch. Ganz anders, als wenn du siehst: Oh, das machen alles nur Männer. Und wenn ich mich zurück erinnere - als ich im Kader war, da gab's keine Klamotten für Frauen. Ich habe immer die Männersachen getragen, die waren viel zu groß. Und Schuhe in kleinen Größen gab es gar nicht! Da hat sich schon brutal viel verändert. Und ich glaube, dass das sowohl im Bergsport als auch in der gesamten Gesellschaft extrem wichtig ist, dass sich da auch was tut.

 

Und deshalb muss das im Bergsport jemand wie ich auch in der Öffentlichkeit tun, damit eben auch andere junge Frauen sehen: Okay, die macht das, dann kann ich es auch. Und das funktioniert. Man sieht es in den Kadern, da hatten wir am Anfang neun Bewerbungen, jetzt haben wir regelmäßig um die dreißig. Das Niveau steigt enorm, auch in der Bergführer-Ausbildung sind jetzt in jedem Jahrgang Frauen dabei. Ich sehe viel mehr Frauenseilschaften im Gebirge, auch in anspruchsvollen Routen beim Klettern. Und ich finde es super, das mit anzusehen und zu wissen, dass ich das mit angestoßen habe. Klar, da waren noch andere vor mir und neben mir, aber ich denke, das ist einer meiner Beiträge zum Bergsport. Andererseits geht mir dieses Frauenthema brutal auf die Nerven. Als ob es nichts anderes geben würde.

Manche Neuerungen sind einfach großartig, zum Beispiel die Idee mit der Doppelspitze: Ich finde, jede Organisation sollte so geführt werden - ein Mann und eine Frau gemeinsam. Was heute aber alles als frauenfeindlich verteufelt wird, scheint mir ziemlich beängstigend.

Aber viele Regeln sind nun mal von Männern gemacht und müssen deshalb auch mit Nachdruck überschrieben werden, zum Beispiel indem man Quoten einführt. Damit dann auch mal Regeln von beiden Seiten gemacht werden. Die Gesellschaft war männerdominiert und jetzt wollen wir Frauen sie dominieren? So sehe ich das nicht, sondern es sind ganz viele Regeln - einfach historisch - von Männern gemacht worden. Und jetzt muss man eben auch in Führungspositionen, dort wo Regeln gemacht werden, mehr Frauen bringen, damit die Regeln für die gesamte Gesellschaft passen. Und ich denke, da braucht man eine Zeitlang auch Quoten. Aber wenn Frauen eingestellt werden, nur weil sie Frauen sind und sonst keine Qualifikationen für den Job haben, dann ist klar, dass der männliche Kollege denkt: Bringt uns das wirklich weiter? Auch mit der Sprache und mit diesem stillen Gendersternchen - ja, ich finde es super. Es ist vielleicht ein bisschen so, wie wenn man versucht, mit Lächeln seine Stimmung zu verändern. Eigentlich ist Lächeln ja ein Ausdruck deiner Stimmung, aber es geht auch andersrum: Wenn ich mit Absicht lächle, kann ich damit meine Stimmung aufhellen. Und vielleicht kann man es mit der Sprache genauso machen. Ich weiß es nicht. Aber wenn es zu starre Regeln werden, dann nervt es halt. Ich bin mir nicht sicher, wie ich dazu stehe.

Traumhafter Ausblick über die Dolomiten aus dem Biwak. Foto: Daniel Gebel

Die Forderung, dass alle gefälligst jetzt anders schreiben, finde ich einerseits eine Zumutung. Andererseits merke ich, dass sich in mir da was bewegt: Ich bin mittlerweile unzufrieden, wenn ich zum Beispiel das Wort ‚Lehrer' schreiben will, so wie ich es gewohnt bin, weil ich heute feststelle: Das ist ungenau und bezeichnet nicht, was ich sagen will, nämlich alle Männer und Frauen in diesem Beruf.

Das Lustige ist, dass jetzt Daniel solche Details immer mehr auffallen. Wir haben in den letzten drei Jahren drei schwere Erstbegehungen gemacht und immer wieder sagt ihm jemand: “Hey Daniel, cool, deine Erstbegehung!“ Einmal saßen wir in einer Seilbahn, mit uns in der Gondel saß eine Familie mit zwei Kindern, Mädchen und Junge. Und dann haben die runter geschaut, wie die Leute da unter uns rauf laufen. Und der Mann hat gesagt: “Guck mal, da geht die Frau voraus, das ist normalerweise nicht so“. Und dann hat er nochmal geschaut: „Ah ja, der Mann hat auch den Rucksack, deshalb geht die Frau voraus.“ Das Mädchen wird groß und denkt, Frauen gehen hinterher. Die wird so erzogen, dass sie denkt, sie muss hinterher gehen. Das ist halt eine krasse Freiheitseinschränkung, viel stärker als über die Sprache.

Moment - Daniel bekommt den Glückwunsch für das, was ihr zusammen gemacht habt?

Nicht immer, aber oft genug geht das an ihn. Die denken halt, ich war dabei und habe ihn gesichert. Und ich habe auch gar keine Lust, das klarzustellen, das ist mir viel zu blöd. Das ist mir auch wurscht, was die dann denken.

Das nervt dich schon, erzähl mir nichts.

Klar nervt mich das, aber nicht so stark, dass ich das Bedürfnis hätte, die Leute darauf hinzuweisen.

Man kennt dich ja nicht zuletzt als Leiterin des Frauen-Expeditionskaders. Wie lange machst du das jetzt schon?

Seit zehn Jahren, der erste war 2011.

Hast du da einen Blumenstrauß bekommen oder sitzen da lauter Männer, die sich keine Jahrestage merken können?

Beim Männerkader gab es noch keinen Trainer, der so lange durchgehalten hat. Aber ja, ich glaube, es ist noch niemandem aufgefallen, dass es jetzt zehn Jahre sind.

Dörte und Daniel: Seit drei Jahren glücklich in den Bergen unterwegs – ohne einen einzigen Streit. Foto: Daniel Gebel

Ist ein Ende abzusehen?

Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber ich will den Frauenkader nicht an einen Mann abgeben, weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass junge Frauen, die sich entwickeln wollen, da eine Frau an der Spitze haben. Und dass sie diese Ausrede nicht haben.

Was meinst du mit „Ausrede“'? Dass sie nicht sagen können, er beurteilt mich schlecht, weil er ein Kerl ist?

Nein, in dem Sinne, das und das kann ich nicht, aber ich bin ja auch eine Frau und der ist ein Mann. Weil das halt schon in der Gesellschaft ziemlich tief drin ist. Da ist es gut, wenn das von vornherein ausgeschlossen ist. Dazu kann man sich natürlich auch mehr abschauen. Beim Sportklettern etwa hilft es sehr viel mehr, jemandem in einer Tour zuzusehen, der die gleiche Statur hat wie man selbst als jemandem, der viel größer ist. Das gleiche gilt in gewisser Weise aber auch im Bergsport. Ich kann eben nicht so gut einen superschweren Rucksack tragen wie jemand, der achtzig Kilo wiegt. Ein großer Teil der Ausrüstung, die man bei sich hat, ist aber konstant, also ein absolutes Gewicht und nicht relativ zum Körpergewicht. Und ich habe mich dann darauf spezialisiert, Ausrüstung und Gewicht zu minimieren, um mit diesem Problem umzugehen, da hat der Daniel von mir auch noch was gelernt. Und ich glaube, es bringt den Teilnehmerinnen schon einiges, wenn die Leitung ähnliche körperliche Voraussetzungen hat. Deshalb glaube ich, es ist wichtig, dass das auch eine Frau macht.

"Man hat das Problem, dass man fast immer im 'Wettkampfmodus' ist"

Erzähl mal von euren Erstbegehungen, da habt ihr ja nicht so viel publiziert.

Im Höllental bei der Zugspitze haben wir zwei gemacht, 2019 und 2020, einmal „Hands Down“, die war so X und „Goldkäfig“, die haben wir X+ bewertet. Jetzt im Frühjahr bin ich meine erste XI- geklettert, das war aber Sportklettern und keine Erstbegehung. Und die Route, die wir in den Dolomiten gemacht haben, die ist auch ziemlich schwer geworden. Zehn Seillängen und eine ist auch so X+/XI-. Und noch ein paar im zehnten Grad. Aber wir haben auch bestimmt 30 bis 40 Tage in der Route gearbeitet, ich habe noch nie so viel Zeit in ein Projekt investiert.

Hast du Lust, das noch zu steigern? Es ist am Ende ja auch ein großer mentaler Stress, wenn du weißt, die Bedingungen passen, du weißt, wie es geht, du bist ausgeruht und jetzt musst du es abrufen.

Erst mal war es hart genug, so hart hätte es gar nicht werden sollen, aber bei einer Erstbegehung weißt du ja nie so genau, was dabei rauskommt. Und es ist einfach uferlos schwer geworden. Und dieses Jahr war es mit dem Wetter nicht so einfach, da sind wir zwischendurch immer halbe Tage in der Wolke geklettert, es hat immer mal wieder geregnet, also suboptimal. Und im September kann es ja auch schon schneien. Und dann haben wir den einen stabilen Tag bekommen, wir waren beide so aufgeregt! Beim Klettern regt man sich meistens wieder ein bisschen ab, aber wir wussten genau, okay, jetzt haben wir einen stabilen Tag, jetzt wäre es auch ganz gut, wenn es klappt.

Zukunftspläne?

Dieses Projekt in den Dolomiten hat uns ziemlich lange beschäftigt, das haben wir jetzt erledigt, jetzt ist erst mal ein bisschen Pause - wir waren gerade im Urlaub beim Tauchen. Mal schauen, was als nächstes kommt. Wir haben angefangen, das nächste Jahr zu planen, wir wollen nochmal ins Yosemite fahren, mal schauen, ob das klappt. Also im Moment steht nichts Besonderes an, aber wir finden schon wieder ein Projekt. Und dann wird da die ganze Energie darauf gerichtet. Aber ich glaube es ist auch ganz gut, mal so eine Pause zu haben im Kopf. Als Draußen-Kletterin hat man ja so ein bisschen das Problem, dass man fast immer im „Wettkampfmodus“ ist: Man geht ganz selten klettern, ohne was erreichen zu wollen. Die Wettkampfkletterer, die haben ganz klar eine Zeit, in der sie trainieren und dann ist irgendwann Wettkampf. Und der Draußen-Kletterer macht meistens den Fehler, dass er halt immer Wettkampf klettert. Und das ist einfach anstrengend.

Projekttüfteleien in den Dolomiten. Foto: Daniel Gebel

Daniel und du, ihr seid offensichtlich ein gutes Team: Ergänzt ihr euch mit Schwächen und Stärken, das heißt einer kann immer genau das gut, wo der andere schlecht ist? Oder seid ihr in allen Sachen einfach gleich gut?

Wir sind uns in vielem sehr ähnlich, aber klar, es gibt Unterschiede. Beim klassischen Sportklettern hat ganz klar Daniel die Nase vorn. Aber in diesen alpinen Routen, die wir gemacht haben, war ich diejenige, die zuerst die Schlüssellänge geklettert ist. Dieses Gelände, dieses alpine Umfeld, das stresst mich überhaupt nicht, ich bin da total gern. Ich hab das Gefühl, dass ich tatsächlich in einer großen Wand besser bin als im Klettergarten, obwohl die Verhältnisse natürlich eigentlich schlechter sind. Aber ich fühl mich da total wohl. Und zweitens ich bin gut, wenn es technisch anspruchsvoll ist, ich stehe ziemlich gut und im alpinen Gelände ist es ja selten besonders überhängend.

Ich meinte jetzt nicht nur das Klettern selbst.

Ich habe eher zu viel Ehrgeiz und zu viel Drive. Ich bin immer diejenige, die pusht, komm, wir versuchen es jetzt! Und Daniel hat immer die Ruhe weg. Der ist da total gelassen, morgen ist auch noch ein Tag und das ist etwas, was mir total guttut. Aber wenn ich es dann durchsteige, dann will er es schon auch unbedingt schaffen und dann geht es in der Regel auch.

Wie ist es im Alltag? Wenn es in Beziehungen zu Konflikten kommt, ist ja oft einer der Ausgleichende und der andere dafür aufbrausend. Wie sind die Rollen da verteilt?

Das kann ich nicht beantworten. Wir hatten noch keine Konflikte, wir haben uns noch nie gestritten. Ich kann es dir nicht sagen.

Echt? Schreib einen Ratgeber!

Whoa, nichts für mich! Das müsste Daniel übernehmen.

Ihr habt noch nie gestritten? In drei Jahren?! Eine Möglichkeit, das zu erreichen wäre, dass sich einer von euch dem anderen total unterordnet, aber das schließ ich jetzt mal aus...

Ich weiß, es klingt komisch, aber wie gesagt, wir haben uns noch kein einziges Mal gestritten. Falls wir doch mal streiten sollten, dann... ja, wäre ich wohl diejenige, die heftiger reagiert und Daniel eher derjenige, der ausgleicht.

Ihr werdet also glücklich leben bis ans Ende eurer Tage?

Das ist der Plan.

- Ende -

 

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