Einsam Pilgern auf dem Franziskusweg. Foto: Martina Lenzen-Schulte
Einsam Pilgern auf dem Franziskusweg. Foto: Martina Lenzen-Schulte
Der Franziskusweg von Florenz nach Rom

Pilgern mit italienischem Flair

Eine Pilgerreise mit Franz in Italien statt mit Jakob in Spanien? Martina Lenzen-Schultes Ankündigung rief regelmäßig Erstaunen hervor. Ganz offensichtlich ist der Franziskusweg weit weniger ein Begriff als der Jakobsweg, und so fand sie Einsamkeit und ein etwas anderes Pilger-Erlebnis zwischen Sansepolcro und Assisi.

Während der Jakobsweg eine regelrechte „Pilgerautobahn“ geworden ist, gilt der Franziskusweg als Geheimtipp. Hier hat die Einsamkeit, wie sie der Namensgeber Franziskus so nachhaltig propagierte, noch eine echte Chance.

Pilgern auf 600 Kilometern

Der gesamte Franziskusweg von Florenz nach Rom ist etwa 600 Kilometer lang und kann grob eingeteilt in vier Etappen zu je einer Woche bewältigt werden. Assisi liegt in der Mitte und ist der wichtigste Ort der Franziskusverehrung. In zwei weiteren Wochenetappen geht es über Spoleto, Terni und durch das Rietital mit seinen bedeutenden franziskanischen Klöstern weiter nach Rom. Manche wählen auch die umgekehrte Richtung von der heiligen Stadt nach Norden. Der Franziskusweg verbindet jene Orte, an denen der heilige Franz von Assisi gelebt und gewirkt hat, und zwar auf Wegen, die er selbst beschritten haben soll. Er ist nicht nur einsamer und deutlich anstrengender als der Jakobsweg. Er ist auch längst nicht so gut ausgeschildert, es fehlt mitunter an Einkehrmöglichkeiten und es gibt kein Netz von typischen Herbergen für Pilgernde. Aus diesem Grund müssen wir oft auf Agriturismi oder Pensionen beziehungsweise Hotels in den kleinen Städtchen ausweichen, deren Vorabbuchung sich angesichts der begrenzten Kapazitäten empfiehlt.

Start in Sansepolcro

Beim Start in Sansepolcro – umstandslos vom Flughafen Florenz mit Bus und Bahn erreichbar – ist von der Einsamkeit noch nicht viel zu spüren. Der Ort bedient alle touristischen Bedürfnisse von Italienfans. Bekannt ist das kleine Städtchen in der Toskana an der Grenze zu den Marken Umbriens wegen seines berühmtesten Sohnes, dem Renaissancemaler und Mathematiker Piero della Francesca. Zu genießen sind italienisches Flair in der Nussschale, nicht nur was Museen, Kirchen und Plätze angeht. Die einfachen, aber überaus geschmackvollen Zimmer in der Locanda del Giglio und das traditionelle Essen der noch jungen Köchin im Ristorante Fiorentino stellen uns mehr als zufrieden. Für Pilgernde ist Sansepolcro ein fester Bezugspunkt, weil dort die erste Wochenetappe für diejenigen endet, die von Florenz kommen und auf diesem Weg den Klosterberg von La Verna besucht haben.

„Duro“ zum Kloster Montecasale

Der warme Sommerabend und das perfekte italienische Ambiente in Sansepolcro versetzen uns gleich zu Beginn in ein unangemessenes, trügerisches Wohlgefühl. Gleich am ersten Morgen verlaufen wir uns und müssen einen älteren Herrn, der in seinem Garten zugange ist, am Zaun nach dem Weg zum Kloster Montecasale fragen. Er könne uns einen kürzeren Weg zeigen, der nicht so beschwerlich – „poco duro“ – sei, allerdings nicht ganz so schön und nicht ganz der echte „Camino“, wie der Franziskusweg in der Region genannt wird. Es ist der erste Tag, da kommen trotz der drohenden Mittagshitze von 30 Grad Celsius keine Kompromisse in Frage. „Duro, eh – Tedeschi?“, es klingt nicht wirklich nach einer Frage, er nickt wissend, auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Resignation und Mitleid, vielleicht eine Spur von Anerkennung, aber das mag Einbildung sein.

Blick von der Terrasse des Klosters Montecasale. Foto: Martina Lenzen-Schulte

Wieder richtig eingenordet, bedeutet der Anstieg zu der Franziskaner Einsiedelei Montecasale auf fast 700 Meter Höhe die erste Herausforderung in Sachen Fitness und Frustrationstoleranz. Wegen der Verspätung verpassen wir die Öffnungszeiten des Klosters und damit den Blick auf die Stelle, an der Franziskus geschlafen haben soll. Die beeindruckende Panoramalage über dem Tibertal entschädigt zwar ein wenig, aber nur kurz.

Die nächsten Zweifel an unserer Unternehmung ereilen uns in den Hügeln hinter Montecasale, wo wir keinen einzigen brauchbaren Hinweis auf den Weg ins Tal ausmachen können. Spätestens hier wird den Pilgernden klar, was es heißt, „vom rechten Weg abzukommen“. Die ausgedruckten Karten reichen nicht hin, der sonst so verlässliche Rother-Wanderführer bleibt just hier leider äußerst vage, das gelbe Tau als Wegmarkierung ist nirgends zu identifizieren und die GPS-Daten ein Rätsel.

Mit den Füßen beten

„Pilgern ist beten mit den Füßen“, lautet ein Spruch. Unversehens „erhören“ uns zwei Gleichgesinnte mit mehr Erfahrung, dem besseren Wanderführer und jenem Quantum Zuversicht, das uns schon abhandengekommen ist. Bei jedem unserer seltenen Zusammentreffen auf dem weiteren Weg erinnern wir uns dankbar an die Hilfe zurück zum „rechten Weg“.

Wer mit den Füßen beten will, lernt auch mit den Füßen zweifeln. Die Blasen der linken Ferse bereiten dank der unter Wandersleuten zu Recht legendären, türkisblau verpackten Pflaster noch die geringste Sorge. Nachdem jedoch der Weg während der beiden nächsten Tage mehrheitlich unter der brennender Sonne vor allem über Landstraßen und recht ungemütlichen Schotter führt und dabei etliche Höhenmeter zu bewältigen sind, signalisieren die sich über den Fußrist hinaus immer stärker rötenden Füße, dass die Vorbereitung wohl doch nicht intensiv genug war. Die eigentlich passgenauen und vermeintlich gut eingelaufenen, hochmodernen Wanderschuhe erscheinen am Morgen mit ihrem geschuppten Synthetikgewebe, den groben Zickzacknähten und gestreiften Schnürsenkeln sowie der verkrusteten Erde an Sohlen und Kappen wie böse Aliens, deren Schlund die geschundenen Gliedmaßen verschlingen will. Vorsichtiger als Nylons werden die Strümpfe übergestreift, mit Bedacht die Riemen festgezurrt und mehrmals in der ersten Stunde nachjustiert, um den Druck durch zuvor nie bemerkte Falten und Wülste zu mindern. Man blickt mit ganz anderen Augen auf seine Füße, reibt morgens vorbeugend die wunden, für den schweren Gang eigentlich zu zarten Knochenvorsprünge und Ballen mit Hirschhorntalg ein und stellt den Füßen die stumme Frage: „Geht es noch?“ Am vierten Tag, als uns die Straße nach Gubbio besonders öde vorkommt, eine Autobahn kreuzt und sich schier endlos hinzieht, will sich selbst beim Anblick der Ruine des alten römischen Amphitheaters vor den Toren der Bischofsstadt keine Zuversicht einstellen. Das muss er sein, der Hauch von Verzweiflung, wenn man beim Pilgern ahnt, dass das Ziel vielleicht nicht erreicht wird, die Aufgabe wohl doch zu gewaltig ist.

​​​​​​​Sehenswertes Gubbio

Pilgern ist eben auch eine Leiberfahrung, die Professor Michael Rosenberger von der Katholischen Privat-Universität Linz in seiner kleinen Theologie der Wallfahrt zu den zentralen Effekten zählt.  Er empfiehlt ausdrücklich „keine zu kurzen Wege“, vielleicht genau deswegen. Obwohl seltsamerweise in den nächsten Tagen noch so manche Herausforderung, so mancher Anstieg zu bewältigen ist, bedeutet Gubbio doch einen Wendepunkt. Nicht nur der Geist, auch der Körper erinnert sich daran, was eine Rast am Weg, so kurz sie auch sein mag, was das Trinken im Schatten, was die Dusche und schließlich die warme Mahlzeit am Ende des Tages bewirken. So auch auf dem Weg zu dem hübschen Städtchen Citta di Castello. Dort richten uns der perfekte Platz in der lauschigen Osteria, die ruhige Nacht in einem ehemaligen Priesterkonvent und der für italienische Verhältnisse ganz unvermutet reichlich angebotene Kaffee am Morgen vor dem Aufbruch wieder auf.

Frühstück in Cita di Castello: Eine Extratasse am Morgen macht den Unterschied. Foto: Martina Lenzen-Schulte

Dank des Nachklangs solcher Momente sind die erschöpften Füße bereit, Gubbio zu ersteigen. Erlaufen reicht in diesem Fall nicht, denn der Ort ist – für frühere Verhältnisse geradezu waghalsig – an den Berg gebaut. Auf der untersten Ebene der Stadt, auf der Piazza dei 40 Martiri, gedenken wir der Opfer des Massakers vom 22. Juni 1944. Hier hatte die deutsche Wehrmacht damals vierzig Menschen als Rache für einen Partisanenangriff erschossen. Nicht weit vom zentralen Denkmal des Platzes befindet sich San Francesco, eine der ältesten Kirchen, die Franziskus geweiht ist. Daneben bezeugt eine Bronzestatue die untrennbar mit Gubbio verbundene Legende: Franziskus predigte nicht nur den Vögeln, sondern tanzte auch mit dem Wolf. Der Heilige soll das Tier, das die Menschen der Stadt terrorisierte, gezähmt und dafür gesorgt haben, dass der Wolf fortan genügend Futter bekam. Gubbio ist allerdings nicht nur für Franziskuspilgernde von Interesse, sondern war von jeher ein wichtiges Zentrum der Umbrer und der Keramikkunst. Zahlreiche Kirchen und Paläste stapeln sich regelrecht an den Hängen des Monte Igenio, junge Kunsthandwerker*innen stellen hier ihre museumsreifen Keramiken mit exquisiten Glasuren aus. Wer über die vielen Treppen, die teilweise die Straßenzüge ersetzen, die Piazza Grande erreicht, wird mit einem grandiosen Ausblick über Stadt und Tal für diese Anstrengung belohnt. Beherrscht wird der eindrucksvolle Platz vom Palazzo dei Consoli aus dem 15. Jahrhundert, der wegen seiner Hanglange architektonische Berühmtheit erlangt hat. Der Palast birgt zugleich die für viele Historiker*innen wichtigste Attraktion von Gubbio: Die sieben großen kupfernen Iguvinischen Tafeln, 1444 in einem Keller in Gubbio entdeckt, deren Inschriften das bedeutendste Zeugnis umbrischer Sprache und Religion darstellen.

Assisi, genauer die Basilika San Francesco, ist schon von weitem zu erkennen. Foto: Martina Lenzen-Schulte

Voller Zuversicht nach Assisi

Es mag viele Gründe haben, dass in Gubbio ein neuer Abschnitt unserer Reise beginnt. Vielleicht wirkt die Erholung nach so massiver Erschöpfung wie ein Gesundbrunnen. Vielleicht ist es das laue Abendlüftchen oder die Tatsache, dass in der stilvollen Taverna del Lupo der nur in Flaschen servierte Hauswein so überdurchschnittliche Qualitäten besitzt. Der nächste Tag sieht uns jedenfalls voller Zuversicht losziehen. Die Rötung der Füße klingt zusehends ab, die Schuhe werden regelrecht bequem, der Rucksack verursacht so gut wie nie mehr Rückenschmerzen und auch eine kurzzeitige Verirrung in einem von Macchia überwucherten Weg kann die Hochstimmung nicht trüben. Das Abendessen auf dem einsamen Agriturismo Tenuta di Biscina – selbstgemachte Linguine ai Funghi porcini – mundet nicht nur seiner Qualität wegen. Dort sind wir es, die einer angeschlagenen Pilgerin aus Australien Mut zusprechen. Ich versorge sie am nächsten Morgen mit Blasenpflastern aus dem nicht mehr benötigten Vorrat. Auch der Weg selbst verändert sich zusehends. Nur noch selten müssen wir die Landstraße nutzen, die Feldwege sind auf einmal beschattet und kommen uns viel weicher vor, es geht sogar durch waldähnliche Regionen und der Duft des ubiquitären gelben Ginsters scheint intensiver. Am letzten Tag ist die Basilika San Francesco, wo Franziskus begraben liegt, bereits Stunden vor der Ankunft in Assisi weithin erkennbar.

"Testimonium" der Pilgerreise

Wer schließlich Assisi durch eines der zahlreichen Stadttore betritt, gerät zunächst in einen umtriebigen Sog. Noch vor dem Pilgergottesdienst in der Unterkirche der Basilika wollen die vergangenen Tage schwarz auf weiß beglaubigt werden. Hierfür muss der Pilgerpass an der Pförtnerloge mit den vielen, auf der Reise gesammelten Stempeln vorgelegt werden. Nur so gibt es das „Testimonium“, eine Bestätigungsurkunde der Pilgerreise.

Das "Testimonium" – die Pilgerbescheinigung, Foto: Martina Lenzen-Schulte

Geschichte mit Bruder Thomas

Erst nach dem Gottesdienst ist Zeit zum Innehalten. Und Zeit, um sich in dem gewaltigen Gebäudekomplex und rund um die Basilika San Francesco zu orientieren. Am 17. Juli 1228 wurde der Grundstein für diese Kirche gelegt, zuvor hatte Papst Gregor IX. Franziskus von Assisi heiliggesprochen. Somit wurde mit dem Bau der prachtvollen Basilika bereits zwei Jahre nach dem Tod eben jenes Mönches begonnen, der selbst auf sein weltliches Erbe verzichtet, ein Leben in Armut gepredigt und praktiziert hatte und der zum Begründer eines der wichtigsten Bettelorden des Mittelalters wurde, der Franziskaner, die seinerzeit noch als „Mindere Brüder“ bezeichnet wurden. Die Kirche San Francesco mutet indes alles andere als „minder“ an. „Warum hat man dem armen Franziskus eine solch große und reich ausgestattete Kirche gebaut?“ Die Frage stellt auch Bruder Thomas Freidel, wenn er deutsche Pilgernde durch die Unter- und Oberkirche von San Francesco führt. Bruder Thomas zu finden, ist dank der Mund-zu-Mund-Propaganda recht einfach. Kaum angekommen, winkt oder ruft es ohnehin aus allen Himmelsrichtungen. So selten man sich auf dem Franziskusweg traf, nun scheinen sich alle hier eingefunden zu haben. Bruder Thomas pflegt einen kompromisslosen Erklärungsstil, er vereint Predigt und kunsthistorische Erklärung. Der Franziskaner-Minorit ist 1967 im pfälzischen Fußgönheim geboren und wirkt seit 2008 als Pilgerseelsorger in Assisi. Er erklärt anschaulich, warum die Kirche „il Poverello“, den kleinen Armen, schon so früh mit einem solchen Bau ehrte. Der mit seinem radikal-authentischen Leben als Bettelmönch bereits zu Lebzeiten heiliggesprochen wurde und viele Menschen in seinen Bann zog. Es sei außerdem im Mittelalter üblich gewesen, vielverehrten Glaubensbrüdern große Grabeskirchen zu errichten. Entscheidend aber war die Unterstützung der Päpste, die in Franziskus ein wirksames Mittel für die Erneuerung der Kirche sahen. Die römische Kurie habe letztlich großes Interesse daran gehabt, das gewaltige Potential dieser neuen Bewegung für die Seelsorge zu nutzen.

Die Oberkirche San Francesco in Assisi. Foto: Martina Lenzen-Schulte

Die Zukunft des Pilgerns

Naturgemäß ist Assisi mehr als jede andere Stadt auf dem Franziskusweg auch ein Touristenmagnet. Hierher führt nicht nur der Camino, auch bequemes Buspilgern ist angesagt. Zu Fuß geht man dann allenfalls noch die kurze Strecke zum Kloster Damiano, wo Franziskus den Auftrag erhielt, die Kirche als Institution wiederaufzubauen. Um zu der Einsiedelei auf dem mehrere Kilometer entfernten Monte Subasio zu gelangen, wohin sich der Bettelmönch immer wieder zurückgezogen hat, stehen Großraumtaxis für die Pilgernden bereit. Gruppenreisen sind derart charakteristisch für den Tourismus in Assisi, dass aus Mangel an Bedarf keinerlei Stadtbegehungen für Individualreisende angeboten werden. Die sind darauf angewiesen, sich privat mit Hilfe der Associazione Guide Turistiche Umbria Führer zu organisieren – worauf uns freundlicherweise eine Mitarbeiterin in der Kunsthandlung Marco Zubboli aufmerksam macht. Der Laden direkt an der Piazza del Comune gegenüber der Touristeninformation ist im Übrigen ein ortsansässiges Traditionsunternehmen und eine Fundgrube für Fans von handgeschöpftem Papier und Gedrucktem aus reiner Baumwolle. Längst nicht alle in der Region stehen den Bemühungen, den Tourismus rund um das Pilgerwesen noch weiter auszubauen, versöhnlich gegenüber. In Assisi spiele das schnelle Geld inzwischen eine zu große Rolle, rügt zum Beispiel der hilfsbereite Händler in dem kleinen Buchladen Le Pagine Sul Lago in Passignano am Trasimenischen See ganz unverblümt. Heute, meint er, heute würde sich Franziskus dort sicher nicht niederlassen oder zuvor wie Jesus die Händler hinauswerfen. Nach der überreichlichen Vorspeisenplatte in der Osteria del Carro, die er uns wärmstens empfohlen hat, diskutieren wir das Für und Wider solcher Entwicklungen. Der Franziskusweg selbst, das wagen wir zu prognostizieren, wird ein echter Pilgerweg bleiben – duro, eh!

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