Hoch über Ramsau und Berchtesgaden thront das Watzmannhaus, Foto: Axel Klemmer
Hoch über Ramsau und Berchtesgaden thront das Watzmannhaus, Foto: Axel Klemmer
Berchtesgadener Alpen

Ramsau

Watzmann, Hochkalter, Reiteralm – und darunter, im Tal der Ramsauer Ache, das erste offizielle „Bergsteigerdorf“ in Deutschland: So sieht nachhaltiger Tourismus im Sinne der Alpenkonvention aus.

Sanfter Tourismus als Motor der Regionalentwicklung

Am 16. September 2015 bläst der Föhn warm über das „Wachterl“, den Sattel der Schwarzbachwacht zwischen Reiteralm und Lattengebirge, und man reibt sich die Augen. Weil man sich hier oben, hinter dem kleinen Taubensee, bei schönem Wetter eigentlich immer die Augen reibt. Watzmann und Hochkalter ragen in den Himmel, die klare Luft offenbart die Textur der Felsmassen und den grünen Pelz der Baumwipfel darunter in beinahe schmerzhafter Detailschärfe. Vorbei an „Lehen“ und „Häusln“ geht es auf der Alten Reichenhaller Straße hinab ins Dorf Ramsau und zum Festakt im feinen Hotel Rehlegg. Zwei bayerische Ministerinnen sind gekommen, um Ramsau in den Stand des ersten deutschen Bergsteigerdorfs zu erheben. Ulrike Scharf, Staatsministerin für Umwelt und Verbraucherschutz, sagt, sie freue sich über die Auszeichnung. „Ramsau ist damit Pionier und Vorbild“, Bergsteigerdörfer könnten einen großartigen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung der Alpen leisten: „Unser Ziel ist, sanften Tourismus als Motor der Regionalentwicklung in Bayern weiter auszubauen. Eine erfolgreiche Ausweitung des Projekts Bergsteigerdorf auf weitere bayerische Alpendörfer ist von umweltpolitischem Interesse.“

Wirtschaft und Natur im Einklang

Scharfs Amtskollegin Ilse Aigner lobt die „Win-win-Situation“, denn von den Bergsteigerdörfern profitierten alle: Gäste, Wirtschaft und Natur. Die Wirtschaftsministerin blickt in lächelnde Gesichter, als sie von ihrer Suchanfrage bei einem Tourenportal im Internet berichtet: „Wanderungen in Ramsau?“ Jede Menge Treffer! Am Ende dankt Aigner den Verantwortlichen beim DAV: „Sie haben nicht nachgelassen, für dieses Projekt zu werben. Und jetzt sind Sie am Ziel. Die Marke Bergsteigerdorf steht für nachhaltigen Tourismus. Sie ist sozusagen ein Synonym dafür und in Bayern herzlich willkommen.“

Markus Reiterer, Generalsekretär der Alpenkonvention, tritt nach den Ministerinnen ans Pult und bemerkt mit Blick auf die beiden Politikerinnen vor ihm: „Wie schön, dass Umweltschutz und Wirtschaft so eng nebeneinander sitzen!“ So soll das schließlich sein in der Alpenkonvention. Bergsteigerdörfer geben dem sperrigen, schwer zu fassenden Vertragswerk ein attraktives Gesicht.

Staatsministerin Ulrike Scharf, Markus Reiterer (Alpenkonvention), Staatsministerin Ilse Aigner, Bürgermeister Herbert Gschoßmann, DAV-Vizepräsident Ludwig Wucherpfennig, Foto: Axel Klemmer

Ein neues Kapitel deutsch-österreichischer Nachbarschaft

Reiterer freut sich nicht nur über das Anbandeln von Ökonomie und Ökologie, sondern auch über ein neues Kapitel deutsch-österreichischer Nachbarschaft: „Dass man sich über die Ländergrenzen hinweg verständigt, bringt eine neue Qualität ins Konzept Bergsteigerdörfer.“ Symbolische Vorarbeit dazu leistete seit 2005 bereits der Almerlebnisbus: Er verbindet Hintersee über den Hirschbichlpass mit dem benachbarten österreichischen Bergsteigerdorf Weißbach im Salzburger Saalachtal.

Wie jeder der bisher 20 österreichischen Orte im Portfolio hat nun auch das erste deutsche Bergsteigerdorf eine eigene, 52 Seiten starke Broschüre bekommen. Herausgeber ist der DAV, der auch gleich noch eine ganz neue Alpenvereinskarte im Maßstab 1:25.000 nachreicht. Einen wichtigen Unterschied gibt es aber doch. Dr. Tobias Hipp, der Projektleiter Bergsteigerdörfer beim DAV, erklärt: „In Österreich hat man den Aspekt der Wirtschaftsförderung betont, da wollte man bewusst kleinen Gemeinden helfen.“ Ein Rettungsschirm für Dörfer in Schwierigkeiten? Den haben die 1800 Ramsauer nicht nötig. Der hiesige Tourismus ist ohne Frage fein; klein ist er mit gut 330.000 Übernachtungen im Jahr (Stand 2014) allerdings nicht. Darüber hinaus bieten Handwerksbetriebe, Metallverarbeiter und Zulieferer Alternativen auf dem Arbeitsmarkt. Pendler haben es nicht sehr weit zum Industriedreieck zwischen Piding, Freilassing und Salzburg.

Wimbachgries, Foto: Axel Klemmer

Statt Seilbahn kam der Nationalpark

Was ein Bergsteigerdorf vor allem braucht, ist „Reliefenergie“. Der Unterschied zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Punkt im Gemeindegebiet muss mindestens 1000 Meter betragen. Ramsau bietet zwischen der Wimbachbrücke (630 m) und dem Watzmann-Mittelgipfel (2713 m) mehr als das Doppelte. Der Watzmann ist der dickste Posten im alpinen Naturinventar – zusammen mit dem Nationalpark Berchtesgaden, zu dem auch das fantastische Wimbachtal, der urtümliche Hochkalterstock mit dem Hochkalter (2607 m) und das Klausbachtal mit dem blauen Hintersee und der steil darüber aufragenden Felskulisse der Reiteralm – höchster Gipfel das Stadelhorn (2286 m) – gehören. Willkommen in einer der schönsten Berglandschaften der Nordalpen! Dass der Gemeinderat eine Seilbahn auf den Watzmann für „lebenswichtig“ erachtete, ist heute eine belächelte Anekdote. Die Seilbahn kam nicht, dafür sechs Jahre später der erste und einzige Alpen-Nationalpark Deutschlands. Er umfasst 210 Quadratkilometer, mehr als 82 Prozent der Gemeindefläche.

Wahl-Ramsauer: Hermann Buhl

Auch das historische Erbe kann sich sehen lassen. Im Schlüsseljahr 1870 erschienen zwei für die europäische Geschichte wegweisende Dokumente: in Berlin die Emser Depesche, die den deutsch-französischen Krieg und, im Jahr darauf, die Gründung des Deutschen Reiches zur Folge hatte; und in Berchtesgaden die erste Bergführerverordnung. Johann Grill erhielt die Ernennung zum ersten autorisierten „deutschen“ Bergführer. 1881 gelang dem „Kederbacher“ (weil er auf dem Kederbacher-Lehen in Ramsau zu Hause war) die erste Durchsteigung der Watzmann-Ostwand. Sein Denkmal vor dem Haus des Gastes am Ortseingang von Ramsau bekam er aber erst 1981. Sehr gern erinnert man auch an den gebürtigen Innsbrucker und Wahl-Ramsauer Hermann Buhl, der sich in eine Tochter des Dorfes verguckt hatte. 1951 heiratete er seine Eugenie („Generl“), geb. Högerle; zwei Jahre später glückte ihm die zur Legende gewordene Erstbesteigung des Nanga Parbat, 1957 stürzte er an der Chogolisa im Karakorum in den Tod.

Watzmann-Gipfel, Foto: Axel Klemmer

Größte "Bergführerdichte" Deutschlands

Die im Kriterienkatalog für Bergsteigerdörfer geforderte „alpine Kompetenz“ reicht jedenfalls bis in die Gegenwart: Elf Bergführer sind in Ramsau gemeldet, damit rühmt sich das Dorf der „größten Bergführerdichte“ in Deutschland. Das schönste Nationalpark-Panorama erschließen die waldig-grünen Höhen nördlich über der Ramsauer Ache, zwischen „Wachterl“ und Bischofswiesen. Hier herauf begibt sich die Festgesellschaft nach den protokollarischen Feierlichkeiten am 16. September 2015. Ziel der Wanderung ist die entzückende kleine Bezoldhütte auf dem Toten Mann (1390 m). Die Musik spielt, das Bier wird frisch gezapft, es gibt Brotzeitplatten und Gamsgulasch mit Knödeln. Zur Bergkulisse liefern die lokalen Mandatsträger den überaus malerischen Vordergrund. Das hiesige Mannsbild macht in seinem Dresscode zwischen Business, Smart Casual und „Come as you are“ keinen Unterschied und verkörpert in jeder Lage die Ramsauer Variante des berühmten Satzes von Loriot: Ein Leben ohne Lederhosen ist möglich, aber sinnlos.

Aufstieg Richtung Watzmann, Foto: Axel Klemmer

Alles bleibt anders...

Tourismuschef Fritz Rasp kombiniert die kurze Hirschlederne mit einem Strohhut. Er wirkt so entspannt wie ein Mann, der nach zwei Jahren Arbeit endlich am Ziel ist. Rasp erinnert sich an den vollen Saal bei der großen Bürgerversammlung im Frühjahr 2014 und an die entscheidende Gemeinderatssitzung: 13:0 Stimmen für das Bergsteigerdorf! Dass es so gekommen war, lag am Alpenverein, der nimmermüde Auskunft erteilt hatte, an unzähligen Informationsveranstaltungen und Gesprächen mit allen Gruppen im Ort und an den fünf bis sechsstündigen Workshops des bergdorfnarrischen Bürgermeisters Herbert Gschoßmann. „Die Leute sind durch die umfassende Kommunikation eng zusammengewachsen“, erklärt Rasp. Aber wie unterscheidet sich denn nun das frühere Dorf vom neuen Bergsteigerdorf? Rasp zuckt mit den Achseln. Eigentlich gar nicht – warum auch? „Alles bleibt anders“ heißt das inoffizielle Motto. Gut, das Thema E-Mobilität wird eine größere Rolle spielen, denn ohne Elektroradl geht nichts mehr im zeitgenössischen Tourismus. Echte Ramsauer brauchen so was natürlich nicht, die stehen gewissermaßen von Natur aus unter Strom. „Wer im Winter keine drei Skitouren in der Woche macht“, sagt Rasp, „zu dem kommt der Nachbar, um nach dem Rechten zu schauen.“ Die soziale Kontrolle funktioniert.

Wandern auf der Reiteralm, Foto: Axel Klemmer

Paradies für Bergfans

Die Berglandschaft ist unschlagbar, und die Infrastruktur, die sie den Einheimischen und ihren Gästen erschließt, bedarf keiner modischen Upgrades. An den schroffen Gipfeln findet man Wege und Routen für viele Urlaube. Darunter gibt es schön gelegene Almen und einen Almerlebnisweg, der sie verbindet. Das Wegenetz ist dicht und gut gepflegt. Und nicht zuletzt sind da die Berggasthäuser und alpinen Schutzhütten – alle in großartiger Lage erbaut und auf schönen Wegen zu erreichen: das Watzmannhaus auf dem Falzkopf, die Blaueishütte mit ihrem berühmten Kuchenbuffet, die Neue Traunsteiner Hütte auf der Reiteralpe und die Wimbachgrieshütte, in der Watzmann-Bezwinger das Trauma des Abstiegs von der Südspitze mit dem ersten Weißbier kurieren können.

Erlaubt das Wetter keine hohen Touren, fährt man wenige Kilometer hinüber nach Berchtesgaden mit dem Schloss, dem Haus der Berge, der Watzmann-Therme und dem Salzbergwerk, nach Bad Reichenhall mit der alten Saline und der modernen Rupertus-Therme – oder gleich zum großen Kulturgipfel über die Grenze nach Salzburg.

Zahmere Angebote sind in Planung

„Im Sommer brauchen wir wirklich nicht mehr Übernachtungen“, sagt der Tourismuschef, „aber im Winter geht noch was.“ Etwa ein Viertel des Umsatzes macht Ramsau in der kalten Jahreszeit. Skibergsteiger*innen schwärmen von den Skitouren am Watzmann (Gugl und Watzmanngrube), vor allem aber am Hochkalterstock (Hochalm, Blaueis, Ofental, Steintal, Sittersbachtal, Hintereis, Vorderberghörndl) – grandiose Routen, die technisch und konditionell aber teilweise sehr anspruchsvoll sind und sichere Verhältnisse verlangen. Jetzt sollen in Zusammenarbeit mit dem Alpenverein verstärkt zahmere Angebote wie Schneeschuhtouren oder Winterwanderwege entwickelt oder ausgebaut werden. Zurück zu den Übernachtungen: Hier besteht noch eine gewisse Unwucht. Der Leitbetrieb, das Hotel Rehlegg, steht mit seiner geballten Öko-Luxus-Power, mit Solarthermie, Fotovoltaik, Blockheizkraftwerk, Bio-Küche und dem Tesla von Hotelchef Lichtmanegger ziemlich einsam an der Spitze. Doch nicht alle buchen ja eine Vier-Sterne-Superior-Suite. Es gibt im Ort noch viele kleine Betriebe mit weniger als zehn Betten. Touristiker rümpfen über so etwas heute schnell die Nase. Für Fritz Rasp ist das generell kein Problem: „Wer seine Betten für zwanzig Euro anbietet, mit dem reden wir aber schon. Ob er nicht vielleicht doch mal renovieren und ausbauen möchte.“

Für Öffi-Nutzer*innen sind die Berge ferner - und größer

Die Gretchenfrage – Wie hast du's mit der Nachhaltigkeit? – richtet sich in jedem Fall nicht nur an Einheimische, sondern auch an Gäste. Die Anfahrt mit „Öffis“ ist umständlich und zeitaufwändig. Von München ist man zwischen drei und vier Stunden unterwegs: zuerst mit dem Railjet nach Salzburg (aktuelle Verbindungen prüfen), dann mit dem Bus 840 nach Berchtesgaden, wo man Anschluss an den Bus 846 nach Ramsau und Hintersee hat. Oder man nimmt den Meridian nach Freilassing, steigt dort in die Berchtesgadener Land Bahn BLB nach Berchtesgaden um und dann in den Bus 846. Wer am Wochenende mit dem ersten Zug um 5.44 Uhr in München losfährt, ist um 9.30 Uhr in Ramsau. Das ist zu spät für große Tagestouren und schnellen Konsum. Was nicht schlecht sein muss. Für Öffi-Nutzer*innen sind die Berge ferner und gewissermaßen größer, die Anfahrt ins Bergsteigerdorf wird zur Reise. Und damit sich der Aufwand lohnt, planen sie am besten mehrere Touren ein und die entsprechende Zahl von Übernachtungen. Bergurlaub „dahoam“ hat wieder Zukunft.

Themen dieses Artikels