Drei Frauen wandern
Auf ihrer Alpenüberquerung heften die Bergfreundinnen sich auf die Spuren der ersten Alpinistinnen. Foto: Bergfreundinnen
Eine Alpenüberquerung mit Hintergrund

Unverfrorene Alpinistinnen, katastrophale Bergstürze und tragische Schicksale

Frauen, die starke Leistungen am Berg erbracht haben, aber in der Geschichte des Alpinismus nicht vorkommen? Davon gibt es insbesondere in den frühen Jahren des Alpinismus im 19. Jahrhundert viele Fälle. Im Sommer 2021 machten sich die drei Bergfreundinnen Katharina Kestler, Anna Hadzelek und Antonia Schlosser mit einer besonderen Mission auf den Weg über die Alpen: In neun Tagen gingen sie auf den Spuren einiger früher Alpinistinnen von Oberstdorf an den Comer See und trafen unterwegs auf spannende Erkenntnisse und berührende Geschichten zeitgenössischer Bergfrauen.

Die unsichtbaren Frauen

Man kann sich fragen: Wo waren die Frauen zu Beginn des Alpinismus? In der Schürze hinterm Herd statt in Stiefeln auf dem Berg? Einige Fälle beweisen, dass sie sehr wohl auf den Gipfeln standen und zeigen, dass eben nur das in die Geschichte eingehen kann, was wir auch wissen. Besonders eindrücklich ist der Fall von Mary Mummery. Gemeinsam mit ihrem Mann Albert Frederick beging sie im Jahr 1887 den Südwestgrat des Täschhorns, aufgrund seiner Länge und Schwierigkeit besser bekannt als Teufelsgrat, und schrieb sogar den Bericht zu dieser Unternehmung. Veröffentlicht wurde er im Klassiker ihres Mannes „My Climbs in the Alps and Caucasus“, in der deutschen Ausgabe taucht dieses Kapitel aus unbekannten Gründen jedoch gar nicht auf.

Heute werden viele dieser Geschichten erforscht und aufgearbeitet und in Publikationen wie dem „beinahe schon“ Klassiker „Erste am Seil“ oder anlässlich des 150-jährigen Jubiläums des DAV (Von den unsichtbaren Frauen) erzählt. Dass es immer noch einiges zu tun gibt, wird schnell klar, wenn man sich bewusst macht, dass ein Großteil der Dokus, Filme, Bücher männliche Protagonisten hat, dass häufig Experten statt Expertinnen befragt werden und es an weiblichen Vorbildern in vielen Bereichen mangelt. Auch die Umfrage des SWR zu Frauen im Sport (PDF) aus dem Jahr 2020 mit 1273 Teilnehmerinnen (davon 861 Spitzensportlerinnen) offenbart den Missstand zwischen den Geschlechtern: 60 Prozent der Befragten haben das Gefühl, mehr leisten zu müssen als ihre männlichen Kollegen, um gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Fair bezahlt fühlen sich gerade mal 22 Prozent der Befragten. Auch die Berichterstattung über ihren Sport bewerten viele als mangelhaft, insbesondere den Umstand, dass Sportlerinnen weniger Sendezeit bekommen, ihre Leistungen weniger ernsthaft und teilweise sexistisch kommentiert werden.

Die Route. Grafik: Bergfreundinnen

Den Frauen eine Bühne

Was Frauen schon früh in den Bergen erreicht haben und heute noch leisten, interessierte auch die Bergfreundinnen Katharina, Antonia und Anna. Auf ihrer selbstorganisierten Alpenüberquerung trafen sie sich daher mit Frauen, die auf verschiedene Arten mit und in den Bergen verwurzelt sind – ob Spitzenalpinistin, Lawinensprengmeisterin, Ethnologin oder Geologin – und erzählen nun ihre Geschichten weiter. Sie sprechen über die Entwicklung von weiblichem Bergsport, über aktuelle Herausforderungen und erfahren, was Frauen heute eigentlich so alles in den Bergen treiben. „Persönlich hat uns die inhaltliche Bandbreite unserer Begegnungen fasziniert. Wir haben viel gelernt, ob in geologischer, geschichtlicher, kultureller oder alpinistischer Hinsicht“, erzählt Anna.

Viele weibliche Sichtweisen, Geschichten und Schicksale. Dabei ist Gleichberechtigung nicht vorrangig die Mission der Bergfreundinnen, die auch bei der Community Munich Mountain Girls aktiv sind. Es geht vielmehr darum, „bergliebende Frauen zu verbinden, Austausch und Freundschaften zu schaffen. Wir wollen inspirieren und Mut machen, sich Neues zuzutrauen, sich weiterzuentwickeln und über sich selbst hinauszuwachsen. Wir wollen der weiblichen Bergliebe auch ein Gesicht und mehr Aufmerksamkeit geben“, so Katharina. Und da sind sie nicht die Einzigen! Mal mehr, mal weniger politisch oder feministisch, mal analog, mal digital: Immer mehr Frauen möchten dazu beitragen, Frauen im (Berg-)Sport eine Bühne zu geben, Vorbilder zu schaffen und so das Selbstbewusstsein im weiblichen Sport zu fördern. So zum Beispiel die Exploristas aus Österreich oder auch das Team rund um „The Female Explorer“, das erste gedruckte Outdoor-Magazin für Frauen.

Auf Katharinas, Annas und Antonias Alpenüberquerung ging es zwar auch, aber nicht nur um die Geschichte von Frauen. Die Bergfreundinnen setzten sich mit dem Klimawandel auseinander, befassten sich mit dem tragischen Schicksal jüdischer Geflüchteter im Zweiten Weltkrieg und gingen der Frage nach, worin sich der Hype Alpenüberquerung eigentlich begründet.

Frühe Alpinistinnen – eigenständig und unverfroren

Geschichte aufarbeiten, Sportlerinnen und Bergfrauen sichtbar machen – das war die Mission von Karin Steinbach. Auf dem Weg zur Keschhütte berichtet sie von den ersten alpinen Pionierinnen und den Steinen, die ihnen in den Weg gelegt wurden.

Katharina und Anna im Gespräch mit Karin Steinbach. Foto: Bergfreundinnen

Als Autorin und Journalistin hat Karin Steinbach sich fast ihr gesamtes (Berufs-)Leben mit den Bergen und alpiner Geschichte beschäftigt. Als Vorbilder bei ihrer bergsportlichen Karriere mussten jedoch meist Männer herhalten. Der Mangel an weiblichen Vertreterinnen ließ in ihr den Wunsch reifen, die oftmals gar nicht bekannten Geschichten von Frauen am Berg ans Licht zu bringen. Das Ergebnis ist das gemeinsame Buch mit Caroline Fink „Erste am Seil – Pionierinnen in Fels und Eis“. Ein Buch, so inspirierend, schockierend und faszinierend, dass Katharina es sich im Anschluss an die Alpenüberquerung nicht nehmen ließ, ihre Bergfreundinnen mit einer Ausgabe zu überraschen.

Die Erkenntnis, wie eigenständig und schon fast unverfroren frühe Alpinistinnen unterwegs waren, was sie sich getraut haben, ohne das heutige Wissen und Ausrüstung, die Unwägbarkeiten, auf die sie sich eingelassen haben, verbunden mit der begründeten Annahme, dass nur ein Bruchteil davon bekannt ist, kann einen schon mal verblüfft zurücklassen. Viele der Bergsteigerinnen sahen sich auch immer wieder mit Widerständen konfrontiert – Eleonore Noll-Hasenclever zum Beispiel wurden nachts die Seile zerschnitten, Loulou Boulaz wurde gesagt, dass es eine Beleidigung des Eigers wäre, wenn eine Frau ihn besteigt, Margaret Claudia "Meta" Breevort hat ihre Tourenberichte unter dem Namen ihres Neffen veröffentlicht, sonst wären sie gar nicht angenommen worden. Heute sind die größten Widerstände vermutlich im eigenen Kopf. Sich mit den Geschichten auseinanderzusetzen, sie zu verbreiten und sich der Privilegien der heutigen Zeit bewusst zu sein, ist mit Sicherheit eine Aufgabe, die die Bergfreundinnen von ihrer Wanderung mit nach Hause bringen.

Der Klimawandel – live und in Farbe

Aber nicht nur Spitzenalpinistinnen tragen die Berge im Herzen. Auch für die Geologin, Informatikerin und Permafrostforscherin Annett Bartsch sind sie Arbeitsplatz und Sehnsuchtsort zugleich. Mit ihr besuchen die Bergfreundinnen den Ort des klimawandelbedingten Bergsturzes am Piz Cengalo, der einen viel nachhaltigeren Eindruck hinterlässt als alles, was man schon über die Klimaerwärmung weiß und lesen kann. Und echte Sorge macht sich breit: „Wie geht’s wohl in den nächsten Jahrzehnten weiter? Und wie kann ich mein eigenes Leben weiter umgestalten, um möglichst zukunftsgerecht zu handeln?“, fragt sich Anna. Dass Katastrophen wie die am Piz Cengalo nicht nur Auswirkungen auf die Natur und die Bergsteigenden haben, erzählt die Wirtin der Sasc Furä Hütte Heidi Altweger. Durch den Bergsturz ist der normale Zustieg durch das Bondascatal, der eine Stunde gedauert hat, gesperrt. Der neue Zustieg dauert mindestens vier Stunden und ist nicht ohne, das schreckt viele ab. Und wenn dann der Sommer auch noch so verregnet ist wie im Jahr 2021 bleiben auch noch die Kletter*innen aus. Umso wichtiger für die Bergfreundinnen, genau diese Hütte zu unterstützen. Und auch weiterhin zukunftsgerecht zu leben und zu handeln.

Unterwegs mit Annett Bartsch. Foto: Bergfreundinnen

Geschichtliches – Oder: Die Alpen als Fluchtroute

„Ihre Erzählungen über die Zeit des Nationalsozialismus, in der viele Menschen versucht haben, über die Alpen zu fliehen, hat mir deutlich gemacht, wie privilegiert mein Berggehen doch heute ist“, berichtet Antonia über das Zusammentreffen mit der Ethnologin, Kulturwissenschaftlerin und Historikerin Edith Hessenberger.

Sie verdeutlicht den Bergfreundinnen eindrücklich, dass die Alpen nicht nur Ort des Alpinismus und der Freizeitgestaltung sind, sondern gerade während der Zeit des Nationalsozialismus auch Fluchtroute für viele Verfolgte. Für viele Jüd*innen wurde das Hochgebirge, von Natur aus eher eine Barriere, zu einer riesigen Brücke. Von 1945 bis 1948 wurden schätzungsweise 50.000 Jüd*innen auf illegalen Wegen von Österreich nach Italien gebracht. Besonders nahe geht die Geschichte der beiden Schwestern Nehab.

Ethnologin, Kulturwissenschaftlerin und Historikerin Edith Hessenberger. Foto: Bergfreundinnen

Das tragische Schicksal der beiden Frauen, die vor der Verfolgung durch das NS-Regime in die Schweiz flüchten wollten und an der Grenze aufgegriffen wurden, ist auf Basis von Zeitzeugen-Interviews dokumentiert. Es handelt sich bei den Frauen um die Schwestern Elisabeth und Martha Nehab aus Berlin. Nach der gescheiterten Flucht und der Inhaftierung in der Arrestzelle in St. Gallenkirch nahmen sie sich dort am 24. September 1942 das Leben, da ihnen die Deportation in ein Vernichtungslager bevorstand.

Diese und viele andere Schicksale sammelt Edith Hessenberger in „Grenzüberschreitungen – Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen“.

Ein Highlight der Tour: die Besteigung des 3417,7 Meter hohen Piz Kesch. Foto: Bergfreundinnen

Trend Alpenüberquerung

Bereits am ersten Tag erklärte Nina Ruhland, Bergwanderführerin und Autorin von „Traum und Abenteuer – der E5“, den Hype rund um Alpenüberquerungen. In ihrer Wahrnehmung ist es häufig der Kontrast, den man in den Bergen findet, der Kontrast zwischen dem „Voll-Sein im Kopf vom Alltag, dem Getrieben sein am Anfang und der folgenden Reduktion auf das Wenige“. Viele Menschen verändern sich im Laufe einer Alpenüberquerung, kommen zu sich und lernen sich selbst besser kennen und überwinden Selbstzweifel.

Und was bedeutete die Tour den Bergfreundinnen, was haben sie mitgenommen von ihrem Weg von Oberstdorf an den Comer See?

  • „Mir war es wichtig, keine Route vorzustellen, die schon bekannt ist. Auch im Sinne davon, überlaufene Orte noch überlaufener zu machen und den Besucher*innendruck auf beliebte Regionen und Orte noch mehr zu erhöhen“ – Katharina

  • In neun Tagen lässt sich auch viel mehr Raum schaffen für Selbstreflektion und Selbst-Kennenlernen! Das bestätigt auch Katharina: „Die Frage, ob ich zu mir selbst gefunden habe auf der Alpenüberquerung, ist schwer zu beantworten. Im Sinne von Dinge, die ich vorher schon über mich wusste, haben sich bestätigt. Ich habe mich also auf jeden Fall besser kennengelernt.“

  • „Nach einem anstrengenden und herausfordernden Tag alle miteinander im Gras herumliegen, einfach nur glücklich und müde sein“ – Anna

  • „Unsere Route war für mich so neu und so vielfältig - von den Wegarten, von den Ansprüchen und auch von den unterschiedlichen alpinen Landschaften, durch die wir gekommen sind. Ich konnte auf unserem Weg so viel Neues in den Bergen und an mir entdecken.“ – Antonia

Eine Route, auf der live zu erleben war, was Frauen schon früh in den Bergen geschafft haben und wo und wie sie auch heute noch wirken. Sich drängende Themen der aktuellen Zeit vor Augen führen, aber auch mal zurückblicken. Und sich der eigenen Privilegien bewusstwerden.

Wenn ihr euch auch in das vielschichtige Abenteuer stürzen wollt: Alle Infos zur Alpenüberquerung der Bergfreundinnen gibt es auf der Seite des BR, die konkrete Route bei Outdooractive.